Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
Vom Netzwerk:
– , die eine realistische Einschätzung vor dem Test unmöglich machen. Erst am Morgen des Ishihara hatten alle Zweifel ein Ende. Schummeln beim Colortest war unmöglich, der Colormann ließ sich nicht bluffen. Man war, was man sah, für immer . Mit dem Ishihara entschied sich dein Leben, dein Beruf und deine soziale Stellung, und alle quälenden Unwägbarkeiten waren vorüber. Man wusste, wer man war, was man zu tun hatte, welchen Weg man ging und was von einem erwartet wurde. Im Gegenzug akzeptierte man seine Position innerhalb der Colortokratie und hielt sich streng an die Regeln. Dein Leben war vorgezeichnet. Und alles in einer Zeit, die man braucht, um ein Blech mit Scones zu backen.

Reise nach Ost-Karmin
    3.9.34.59.667: Um den Zuchtbestand zu erhalten und die öffentliche Ordnung zu gewährleisten, ist es Komplementärfarben strengstens untersagt , sich zu verehelichen. (Beispiele: Orange/Blau, Rot/Grün, Gelb/Purpur.)
    Wenige Minuten später, nachdem die auf Hochglanz polierte Dampflokomotive angefangen hatte, rhythmisch zischend dicke Rauchwolken auszustoßen, setzte sich der Zug langsam in Bewegung und verließ Zinnober. Ich hörte das leise Wimmern des Gyro-Stabilisators, und in der Luft lag der Geruch von heißem Öl und Holzrauch. Wir gewannen an Fahrt und legten uns leicht in die Kurve, während es vorbeiging an Rangiergleisen voller Zwillingsschienenloks, die mit dem letzten Großen Sprung Zurück vor ungefähr hundert Jahren aufgegeben worden waren.
    Es gab nur einen Passagierwaggon, und der war relativ leer. Zwei Blaue Fabrikdirektoren unterhielten sich laut über die Tatsache, dass die Beschäftigung wieder mal gestiegen sei und sie daher gezwungen wären, die Arbeitszeit der Grauen zu verlängern. Eine besorgniserregende Entwicklung. Wenn erst mal alle Grauen überbeschäftigt waren, würden die Nächsthöheren auf der Skala dazu herangezogen, das Defizit auszugleichen – Rote. Zum Glück kämen zuerst die mit einer geringen Rot-Wahrnehmung dran; die Überbeschäftigung müsste schon ein gefährliches Ausmaß annehmen, ehe ich dazu verpflichtet wäre, eine Hacke in die Hand zu nehmen oder mich ans Fließband zu stellen.
    Den beiden besorgten Blauen gegenüber saß ein Gelber Senior-Aufseher, der die ganze Zeit im Handbuch der Zivilen Pflichten las, und vorne im Waggon zwei Orangene in etwas übertriebenem Aufzug, die aussahen wie Wanderschausteller. Die beiden Blauen hatten sich darüber mokiert, dass die vorderen Plätze eigentlich ihnen zustünden, und die Gelben und die Grünen hatten es ihnen nachgetan. Die Orangenen hatten lediglich höflich genickt und die anderen Passagiere dazu genötigt, Plätze ohne besondere Rangordnung einzunehmen, was alle sichtlich empört hatte. Ein amüsantes Theater, aber der Nachteil war, dass die beiden etwas herrischen Grünen, denen wir bereits beim Frühstück begegnet waren, sich uns jetzt direkt gegenüber niederließen und wir unsere gegenseitige Verachtung weiter pflegen konnten.
    Ich saß am Fenster und sah mir die Landschaft an, hauptsächlich, um dem hasserfüllten Blick der Grünen Frau auszuweichen, die sich bestimmt schon eine neue Schikane für mich ausdachte. Ich war noch ganz voll von dem Erlebnis mit dem merkwürdigen Grauen Mädchen, das gedroht hatte, mir den Kiefer einzuschlagen. In knappen Worten hatte sie die fein abgestimmte soziale Ordnung, das Fundament des Kollektivs, beschmutzt, diffamiert, entwertet. Merkwürdig war nur, dass jemand, der zu so einer Grobheit fähig war, so lange überlebt hatte. Für gewöhnlich wurden Störenfriede bei der halbjährlichen Überprüfung des Meritenstandes und des Feedbacks ausgesondert. Wenn das System funktioniert hätte, wäre sie längst zum Reboot verfrachtet worden, um Manieren beigebracht zu bekommen. Die Tatsache, dass sie mich nicht noch stärker gereizt hatte, sowie ihre sozialen Defizite machten sie für mich nicht nur interessanter, sondern sogar attraktiv .
    »Ich glaube, ich hätte gerne eine Tasse Tee«, sagte die Grüne Frau, die vermutlich in jedem Vertreter einer niederwertigeren Farbe, der untätig herumsaß, einen Faulpelz sah. Ich ignorierte die Bemerkung, es war ja noch kein Auftrag, aber das sollte sich bald ändern. Sie stieß mich mit der Spitze ihres Schirms an und wiederholte ihren Wunsch.
    »Junge? Bring mir einen Tee. Ohne Zucker. Aber mit Zitrone, falls welche da ist.«
    Ich sah sie an und holte tief Luft.
    »Natürlich, Madam.«
    »Und einen Keks. Mit Schokolade. Und

Weitere Kostenlose Bücher