Grau - ein Eddie Russett-Roman
Vitalzeichen.«
Der Monitor brauchte einen Moment, um die innere Musik des Mannes aufzunehmen, dann leuchtete die mittlere Lampe auf, ohne zu blinken, was ein gutes Zeichen war. Bernstein, stabil, vielleicht war es ja doch nur eine einfache Sommerschwermut.
Dad fasste in die Brusttasche des Patienten, zog das Meritenbuch des Mannes hervor und schlug die letzte Seite auf, wo der Chromatische Wert des Inhabers eingetragen war
»Oh, Scheibenkleister!«, sagte er, in einem Ton, der nur eins bedeuten konnte.
»Purpur?«, fragte ich.
»Rot achtundsechzig, Blau einundachtzig«, bestätigte er, und pflichtbewusst notierte ich den Wert auf den Unterarm des Mannes, während mein Vater die nötige Farbdosierung in die Messbrille einwählte. Eigentlich hatte ich nicht vor, beruflich in die Fußstapfen meines Vaters zu treten, aber ich hatte mich oft genug in seiner Nähe aufgehalten, um zu wissen, was in so einer Situation getan werden musste. Die meisten in der Chromatikologie verwendeten Breitband-Heilfarbtöne wirkten zwar unabhängig von der Farbwahrnehmung des jeweiligen Patienten, für die feineren Schattierungen jedoch brauchte man Standard Vision, um auf den Kortex einzuwirken, daher der Farbausgleich über die Messbrille.
»Ist er ein Purpurner?«, wiederholte einer der Verkäufer besorgt meine Frage. Purpurne hielten zusammen, und jede Nachlässigkeit beim Versuch, das Leben eines Purpurnen zu retten, konnte schwerwiegende Konsequenzen haben.
»Zu vierundsiebzig Prozent«, bemerkte ich nach einer rasanten Kopfrechenleistung und fügte, vielleicht unnötigerweise, hinzu: »Ganz bestimmt ein Präfekt.«
Wir wälzten den Mann auf die Seite, und als die Verkäufer und Kunden das an seinem Jackettaufschlag befestigte purpurfarbene Kennzeichen sahen, wurde es still im Raum. Nur der unerwartete Todesfall eines Ultravioletten hier im Geschäft hätte ihnen mehr Kopfschmerzen bereitet. Allerdings setzte es auch meinen Vater unter Druck. Wenn er hier versagte, bekäme er nicht nur negatives Feedback, sondern müsste sich auch rechtfertigen. Kein Wunder, dass Mustermänner nur ungern auf unerwartete Hilferufe reagierten.
»Wir hätten uns lieber das Kaninchen ansehen sollen«, murmelte er und setzte dem Mann die farbausgleichende Messbrille auf die Nase. »Gib mir mal eine 35– 89 – 96er.«
Ich ging die Reihe der kleinen, runden Glasscheiben in seinem Musterkoffer durch, suchte die gewünschte aus und reichte sie ihm.
»35– 89 – 96«, wiederholte ich wie ein Profi.
»Linkes Auge achtundsechzig Komma zwei Footcandle«, sagte Dad und schob die Scheibe in den entsprechenden Schlitz des Brillengestells. Er justierte den Lichtwert auf seinem Blitzer, und ein hohes Wimmern zeigte uns an, dass sich das Gerät auflud. Sorgsam notierte ich Zeitpunkt, Code, Dosierungsmenge und »L« für linkes Auge auf der Stirn des Purpurnen, damit die nachfolgenden Heiler wussten, was verabreicht worden war. Als der Blitzer funktionsbereit war, rief mein Vater: »Deckung!«, und alle Anwesenden im Geschäft kniffen die Augen zu. Ich hörte einen Piepston, das Zeichen, dass der Blitzer das Licht durch die farbige Glasscheibe auf dem Gestell entlud und es von dort auf die Netzhaut und den visuellen Kortex des Mannes gelangte. Es war ein komisches Gefühl, an das man sich einfach nicht gewöhnen konnte. Meine erste Blitzung dieser Art war im Zusammenhang mit meiner kombinierten Ebola-Masern-H6N14-Impfung im Alter von sechs Jahren erfolgt, und für einen kurzen Moment hatte ich Musik gesehen und Farben gehört, jedenfalls war es mir damals so vorgekommen. Außerdem hatte ich den ganzen Tag über gesabbert, was normal ist, und eine Woche lang den Geruch von Brot in der Nase gehabt, was nicht normal ist.
Der Purpur-Patient zuckte zusammen, als die Farbe in sein Sehzentrum sickerte. Die Scheibe musste hellorange sein, stark genug, um einen Mann diesen Alters wieder ins Leben zurückzurufen. Wie das genau funktionierte, wusste niemand so recht. Trotz aller Verdienste um die Gesundheit des Kollektivs blieb die Chromatikologie eine unterentwickelte Wissenschaft. Meinem Vater war das weitgehend egal. Er vermischte oder erforschte die nötigen Farbtöne nicht weiter, er stellte lediglich die Diagnose und verabreichte die erforderliche Farbschattierung. Wenn mein Vater mal milde gestimmt war, nannte er diese Methode bescheiden »Heilen nach Zahlen«.
Aber außer laut zu lachen, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben – eine befremdliche,
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