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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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doch nicht gänzlich ungewöhnliche Reaktion –, verschlimmerte sich der Zustand des Purpurnen sogar noch.
    »Bernstein, blinkend«, las ich von dem Monitor ab, der noch immer an das Ohrläppchen angeschlossen war.
    »Wir verlieren ihn«, hauchte mein Vater und gab mir die 35– 89 – 96er-Scheibe zurück. »Gib mir mal eine 116 – 37 – 97er.«
    Ich suchte die hellgrüne Scheibe heraus und hielt sie ihm hin. Dad behandelte jetzt das andere Auge, rief wieder »Deckung!« und schaltete den Blitzer ein. Das linke Auge des Purpurnen zuckte wie wild, und seine Vitalzeichen sackten auf Rot und Bernstein, wild blinkend. Dad bat mich um eine 342 – 94 – 98er Scheibe, um unseren Patienten wieder ins Lot zu bringen und die Wirkung der 35 – 89 – 96er umzukehren. Das wiederum hatte einen radikalen Effekt – es ging nämlich nach hinten los. Mit einem letzten Aufbäumen erloschen alle Lebenszeichen, und der Ohrenmonitor sprang auf Rot, anhaltend.
    »Er ist hinüber«, sagte ich entsetzt, und allen, die zugeschaut hatten, stockte vor Schreck der Atem.
    »Nach einer einzigen 342 – 94 – 98er?«, entgegnete mein Vater ungläubig. »Unmöglich!«
    Dad überprüfte die Scheibe, die ich ihm herausgesucht hatte, aber sie war in Ordnung. Er wischte sich die Stirn, holte die Neunzig-Sekunden-Sanduhr aus seinem Koffer und stellte sie neben sich auf den Boden. Bei Herzstillstand braucht das Blut neunzig Sekunden, um aus der Netzhaut abzufließen. Sobald der Augentod eintritt, gibt es keine Möglichkeit mehr, Farbe in den Körper des Patienten einzugeben, es ist aus und vorbei. Das wäre schlimm, sogar sehr schlimm, nicht nur, weil unser Mann ein Purpurner war, sondern weil durch seinen verfrühten Tod seine Funktionalität nicht zur Gänze ausgeschöpft worden wäre. Und jeder, der das Planziel nicht erreichte, war eine vergeudete kommunale Investition.
    Dad probierte es noch mit einigen anderen Farbtönen, schaltete wieder den Blitzer ein, doch ohne Erfolg. Dann stellte er die Behandlung ein und überlegte fieberhaft, während der Sand unerbittlich durch die Uhr rieselte.
    »Alle Versuche sind fehlgeschlagen«, flüsterte er mir zu. »Irgendwas ist mir entgangen.«
    Im Geschäft war es mucksmäuschenstill. Keiner wagte zu atmen. Ich schaute hoch zu den Kunden und Angestellten, aber die sahen mich nur verständnislos an, unfähig, uns beizustehen. NationalColor kümmerte sich um Deko-Farbtöne, nicht um Heil-Farbtöne. Es mischte zwar auch euphorisierende Schattierungen, um die Einwohner bei Laune zu halten, aber das geschah nur nach Absprache mit dem General-Mustermann.
    Plötzlich kam mir ein verwegener Gedanke.
    »Die Farbtöne schlagen deshalb nicht an«, flüsterte ich, » weil der Mann gar kein Purpurner ist! «
    Dad sah mich misstrauisch an. Falschkennzeichnung kam extrem selten vor, zehntausend Meriten Strafe stand darauf, also praktisch Reboot. Da konnte man auch gleich Schluss machen und sich in den Nachtzug legen.
    »Selbst wenn es stimmt«, antwortete er drängend im Flüsterton, »es würde uns auch nicht weiterhelfen. Ist er ein Roter, ein Blauer, ein Gelber? Und wie viel Farbe kann er sehen? Wir bräuchten ein halbes Jahr, um alle Kombinationen durchzuspielen.«
    Ich sah wieder nach unten, auf die Hand des Mannes, die ich immer noch hielt, und erst jetzt fiel mir auf, dass die Handflächen ganz rau waren, von einem Finger fehlte das oberste Glied, und die Fingernägel waren brüchig und ungepflegt.
    »Er ist ein Grauer.«
    »Ein Grauer?«
    Ich nickte. Dad sah erst zu mir, dann zu dem Patienten, dann zu der Sanduhr. Die letzten Körner rieselten durch die Öffnung, und ohne einen konkreten Plan, außer der Standardvariante ›Nichtstun und Hoffen‹, nahm mein Vater dem Mann das Brillengestell ab, wählte eine Scheibe aus und blitzte, nachdem er noch »Deckung!« gerufen hatte, die Farbe dem Mann direkt in die Augen. Der Effekt war umwerfend. Der Graue krampfte, sein Herzschlag setzte wieder ein, und die Anzeige am Ohrmonitor sprang zurück auf Bernstein, stabil. Nach wenigen Minuten und der Anwendung einiger sorgfältig ausgewählter Farbscheiben, auf die der Patient positiv und vor allem vorhersehbar reagierte, stabilisierte sich sein Zustand bei Grün, blinkend. Alle im Geschäft zeigten sich erleichtert und plapperten drauflos. Für die Rettung eines, wie sie meinten, so bedeutenden Einwohners, hätte sich mein Vater ja wohl ein dreifaches A-Feedback verdient und einen Kuchen-Bon obendrein. Wir ließen sie

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