Grau - ein Eddie Russett-Roman
du mich noch einmal anfasst, breche ich dir deinen Scheißkiefer!«
Ich war perplex. Sie hatte nicht nur ein Sehr Schlimmes Wort in den Mund genommen, sie hatte auch noch einem spektral Höherstehenden körperliche Gewalt angedroht, ohne dass auch nur die geringste Provokation vorlag. Ich reagierte schlecht und spulte die standardmäßig blanke Empörung ab.
»So darfst du mit mir nicht reden!«
»Und warum nicht?«
Die Frage war so unerhört, dass sie eigentlich keiner Antwort bedurft hätte, aber ich versuchte es trotzdem.
»Zum einen weil du eine Graue bist und ich ein Roter!«
Sie trat vor, zupfte das Rote Farbkennzeichen von meinem Revers, ließ es auf die Pflastersteine fallen und fragte sarkastisch: »Darf ich dir jetzt den Kiefer brechen?«
Mir fiel die Kinnlade herunter, nicht weil die Graue sie gebrochen hatte, sondern vor Staunen angesichts von so viel Unverschämtheit. Ich hätte sie fragen sollen, wer der angebliche Purpurne war, damit hätte ich sie kalt erwischt. Doch im selben Moment rief mich mein Vater, und ich wandte mich von ihr ab. Als ich mich wieder umdrehte, war die Graue in der Menge untergetaucht.
»Was suchst du?«
»Ein Mädchen.«
»Jetzt? Wo unser Zug in einer halben Stunde abfährt? Du bist wirklich ein hoffnungsloser Optimist, Eddie.«
Unsere Postleitzahlen wurden am Bahnhof nicht verifiziert. Der diensthabende Gelbe hatte bei einem anderen Reisenden einen Verstoß gegen die Kleiderordnung ausgemacht und musste sich darum kümmern – es ging um Arbeitsschuhe bei Reise-Freizeitkleidung Nr. 3. Nachdem wir also unser Gepäck abgeholt hatten und unsere Fahrkarten kontrolliert worden waren, suchten wir uns Plätze im hinteren Teil des Waggons und ließen uns nieder. Gedankenverloren sah ich aus dem Fenster.
»Ich habe etwas für dich«, sagte mein Vater und gab mir einen verbogenen Suppenlöffel, der durch jahrhundertelangen Gebrauch ganz abgegriffen war.
»Woher hast du den?«
»Aus der Westentasche des falsch gekennzeichneten Grauen. Anstelle eines Honorars.«
»Dad!«
Er zuckte mit den Schultern.
»Du hast ihm das Leben gerettet«, sagte er. »Und außerdem hast du keinen Löffel.«
Wenn es um Löffelknappheit ging, wurden anerkannte Verhaltensregeln gern außer Kraft gesetzt. Der Mangel war so eklatant, dass der Preis für einen Löffel fast unbezahlbar hoch war und dynastische Löffelerbfolge daher von großer Bedeutung. In die Löffel wurden Postleitzahlen eingraviert, und man trug sie am Körper, um Diebstahl vorzubeugen. Sogar die Regeln für Tischmanieren, eine der acht Säulen, auf denen das Kollektiv ruhte, waren gelockert worden, und es war gestattet, seinen Tee – unerhört! – mit dem Griff einer Gabel umzurühren.
Ich steckte den Löffel kommentarlos ein, schließlich stand der falsch gekennzeichnete Graue tatsächlich in meiner Schuld, und wir warteten darauf, dass die anderen Passagiere einstiegen.
»Sag mal«, fragte ich meinen Vater, »was hat ein Grauer, der sich als Purpurner ausgibt, in einem Farbengeschäft von NationalColor in Zinnober verloren?«
»Vorsicht«, sagte mein Vater lächelnd. » Neugier ist ein Treppensturz … «
» … und der Weg hinab ist kurz «, ergänzte ich zusammen mit ihm dieses häufig gehörte Sprichwort und fügte dann hinzu: »Wenn ich erst mal Senior-Aufseher bin, zahlt sich Wissbegier aus.«
» Falls du Senior-Aufseher wirst«, korrigierte er mich. »Wir wissen nicht, ob du die nötige Rot-Wahrnehmung hast – und Constance ist auch noch nicht erobert. Und noch etwas: Die Wissbegierigen haben meistens die hässliche Angewohnheit, im Reboot zu enden, so wie der kleine Carrot. Wie hieß er doch gleich?«
»Dwayne.«
»Genau. Dwayne Carrot. Zu viele dumme Fragen. Also, sieh dich vor.«
Nach diesem reichlich allgemein gehaltenen Ratschlag nahm er das Spectrum zur Hand und fing an zu lesen. Mein Vater und ich standen uns zwar einigermaßen nahe, aber ich hatte ihm nie verraten, dass ich sehr viel mehr Rot sehen konnte, als ich zugab. Die Frage war nicht, ob ich die nötigen fünfzig Prozent hatte, um zur Chromogenzija zu gehören und Senior-Aufseher zu werden, sondern ob ich die nötigen siebzig Prozent hatte, um möglicherweise zum Roten Präfekten aufzusteigen. Insgeheim war ich ganz zuversichtlich, aber absolut sicher war ich mir nicht. Die Farbwahrnehmung ist eine bekanntermaßen subjektive Angelegenheit, und es sind die vereinten Kräfte der menschlichen Schwächen – Selbsttäuschung, Übertreibung, Betrug
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