Grau - ein Eddie Russett-Roman
Piazza in Hoch-Safran ist aus naturfarbenem Perpetulit.«
»Aber Mehltau kriegen doch fast alle«, sagte ich. »Und bis hierher kommt kaum jemand.«
»Es gibt eine Liste mit Symptomen«, sagte Jane betrübt. »Anhang XII . Und wenn jemand irgendeins dieser Symptome aufweist, bekommt er das Mehltau-Farbmuster gezeigt.«
Es dauerte einen Moment, bis die Botschaft angekommen war, doch als ich verstand, war sie zu ungeheuerlich.
»Jetzt nur keine voreiligen Schlüsse ziehen«, sagte sie schnell. Offenbar ahnte sie, was in mir vorging. »Die Arbeit eines Mustermanns hat zu fünfundneunzig Prozent heilende Wirkung. Mustermänner sind keine Mörder. Ganz früher, glaube ich, war Anhang XII mal eine Liste mit Symptomen, die einem die Wahlmöglichkeit bot, das Grüne Zimmer zu betreten. Irgendwann im Lauf der Zeit wurde aus der Wahlmöglichkeit zwingende Pflicht. Und jetzt überleg mal selbst: Hat dein Vater viele Fälle von Mehltau behandeln müssen?«
»Nein«, sagte ich nach einigem Nachdenken. »Er war immer stolz darauf, dass er keine einzige Person an die Fäulnis verloren hat.«
»Das ist ein gutes Zeichen«, sagte Jane. »Es beweist, dass er ein Gewissen hat. Robin Ocker hat das System, so gut er konnte, ausgenutzt, um nur ja keinem seiner Patienten das Mehltau-Muster zeigen zu müssen. Er hat Zielvorgaben manipuliert, Bilanzen frisiert und sogar Fehldiagnosen gestellt und falsche Ratschläge gegeben, nur um das Schlimmste zu verhüten. Wenn das nicht funktionierte, hat er sie dazu gebracht, so zu tun, als würden sie abhauen, in den Ausstand treten, und hat sie in Dachkammern eingesperrt. Alles, um nur den Revisor fernzuhalten. Zeitweilig hatten wir sechsundzwanzig Übrige versteckt. Einige sind trotzdem im Grünen Zimmer gelandet, aber das geschah auf eigenen Wunsch. Er hat es geschafft, dass das Dorf sieben Jahre lang frei von Fäulnis geblieben ist. Er war ein außergewöhnlicher Mann.«
»Und deswegen haben sie ihn getötet?«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Den genauen Grund kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass er mitten in der Nacht aus dem Bett geholt wurde, dass man ihn mit einem Traum-Farbmuster geblendet und ihn dann ins Grüne Zimmer abgeschoben hat. Er hat sie nicht mal kommen sehen. Nachts sieht man sie nie.«
»Hast du sie schon mal gesehen?«
»Nein«, antwortete sie. »Aber ich bin immer auf der Hut und gucke mir alle Neuankömmlinge sehr genau an, wenn möglich. Ich bin nicht so leicht zu ängstigen, aber die machen mir Angst. Sie würden alles tun, um die Stagnation zu bewahren. Alles .«
»Mein Vater bleibt vielleicht hier«, sagte ich. »Mrs Ocker und er haben was am Laufen.«
»Dann könnte es sein, dass er unsere Hilfe braucht. Er muss erfahren, dass wir Übrige bei uns verstecken.«
»Bringt ihn das nicht selbst in Gefahr?«
»Ihn bringt ja schon in Gefahr, dass er das Potential des Mehltau-Musters nicht voll und ganz ausschöpft, obwohl ihm das gar nicht klar ist.«
Ich sah Courtland an, der jetzt fast ununterbrochen hustete. Seine Haut wurde wachsbleich, seine Ohren waren weiß und spröde. Er starb, und es war ihm bewusst, dass er starb. Ich half ihm von dem Betonklotz herunter, legte ihn auf das weiche Gras und schob ihm einen der beiden Ranzen als Stütze unter den Kopf. Plötzlich fiel mir etwas ein.
»Warum hat es uns nicht getroffen?«, fragte ich.
»Das war das Gordini-Muster, das ich dir gezeigt habe«, sagte sie leise. »Danach ist man für ein paar Stunden immun gegen alle anderen Farbtöne, gute wie schlechte.«
»Courtland hast du ihn nicht gezeigt«, sagte ich vorwurfsvoll. »Deine Passivität ist schuld an seinem Tod. Das hat keiner verdient. Nicht mal er.«
Sie sah mich an und seufzte.
»Du hast ja recht. Aber er hätte alles ausgeplaudert im Dorf. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir bereit sein zu schwierigen Entscheidungen. Und dabei war das hier nur ein Vorspiel. Glaub mir, es kommt noch viel härter für dich. Wenn du nach Freiheit strebst, werden Unschuldige leiden – auf deine Veranlassung.«
»Kann sein«, sagte ich. »Aber so weit bin ich noch nicht.«
Ich zog das Plättchen Lincoln hervor, das ich Lucy abgenommen hatte. Eine schnelle Wirkung hatte ich mir versprochen, aber es passierte überhaupt nichts. Jedenfalls mir nicht. Courtland dagegen stöhnte erleichtert, als ich ihm das Lincolngrün zeigte. Nach kurzer Zeit ging seine Atmung entspannter, und die Panik ließ deutlich nach. Das Lincoln steckte ich noch nicht wieder ein, auch
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