Grau - ein Eddie Russett-Roman
Buchsbaumhecken. Die meisten waren bereits von Moos, Mulch und Flechten besetzt, doch die der Piazza zugewandten waren seltsamerweise blank und wie neu. Ich überquerte das Rund und ging zu dem schlichten Steinmonolithen in der Platzmitte. Er war schlank und hoch und trug eine uns allen vertraute Inschrift. Ich ließ mich auf der Bank nieder, um sie mir anzusehen.
getrennt sind wir vereint
»Was sagst du dazu?«, fragte Jane und setzte sich neben mich.
»Auf jeden Fall beeindruckend, aber irgendwie auch beängstigend«, erwiderte ich. »Ist das hier wirklich das Zentrum einer seit langem verlassenen Stadt?«
»Eigentlich ist das hier erst der Anfang von Hoch-Safran«, sagte sie. Courtland sprang gerade in die Luft vor Freude über einen besonders schönen Löffel, den er gefunden hatte. »Die Stadt zieht sich bis zur Küste hin. Aber sie ist nicht verlassen. Jedenfalls nicht immer. Im Gegenteil.«
Die Sonne verschwand hinter einer Wolke, und mir wurde kühl. Plötzlich erschien die Atmosphäre auf der Piazza bedrückend, und jetzt fiel mir auch auf, dass es hier überhaupt keine wild lebenden Tiere gab, nicht mal einen Schmetterling. Ich hatte mich mit der Hand aufgestützt und nahm sie jetzt von der Bank. Ein scharfer Schmerz durchfuhr mich, etwas Haut blieb an der Bank kleben, etwas Blut spritzte auf die Sitzfläche. Eine Sekunde später fing der Tropfen an, Blasen zu werfen.
»Wir gehen besser weiter«, sagte Jane, und wir standen auf. Versehentlich stieß ich mit dem Fuß an einen Löffel, und als ich mich bückte, um ihn aufzuheben, schrie ich auf vor Schreck. Unter der Perpetulitoberfläche, wie von einem Ertrunkenen unter einer Eisdecke, starrte mir ein ausdrucksloses Gesicht entgegen. Der Mund des Toten stand weit offen, und die Handflächen wiesen nach oben. In dem Überzug aus weichem Gewebe waren sämtliche Knochen deutlich zu sehen, selbst das Fischgrätenmuster seines Jacketts war zu erkennen. Wie bei der Giraffe, die ich außerhalb von Karmin entdeckt hatte, hatte der wenig wählerische Organoplastoid ihn einfach verschlungen, als wäre ein Mensch nichts weiter als Regenwasser oder Blätterstreu. Während ich dieses Gespenst genauer betrachtete, fiel mir auf, dass links von ihm ein zweiter Körper zu erkennen war, in einem noch stärker verdauten Zustand. Und dahinter noch einer und noch einer. Ich sah mich um, und jetzt dämmerte es mir: Das wirbelartige Muster, das ich für so zufällig gehalten hatte wie das Muster auf Linoleumböden, war in Wirklichkeit eine chaotische Masse aus halb verdauten Menschen, willkürlich angeordnet. Das Perpetulit hatte Gewebe, Knochen, Zähne, sogar die Kleidung verzehrt und nur die unverdaulichen Teile übriggelassen, die ordentlich zur Seite geschoben worden waren. Zum Reboot nahm man nicht viel mit, aber die Tradition besagte, dass man wenigstens seinen Löffel einsteckte. Dabei schichteten sich nicht nur Löffel an der Kante auf, sondern auch Knöpfe, Gürtelschnallen, Schuhnägel und Münzen, alles rostrot verfärbt vom Hämoglobin.
»Der Nachtzug vom Abzweig Kobalt«, flüsterte ich, meine Kehle war plötzlich wie ausgedörrt. »Der fährt gar nicht nach Smaragdstadt, stimmt’s?«
»Nein«, bestätigte Jane. »Er fährt direkt hierher.«
Ich sah zu den Haufen aus Löffeln. All die Leute, die wegen Aufwieglertums oder Aufsässigkeit, wegen schlechter Manieren oder Respektlosigkeit, durch eine Intrige oder durch Zufall zum Reboot geschickt worden waren – es hieß immer, nach der Umerziehung würde man in einem anderen Sektor angesiedelt. Das war eine Lüge. Alle Rebooter fanden hier ihr Ende, außer den wenigen, die entkommen konnten, wie die Frau in dem Flakturm und Thomas Smaragd, dessen Überreste wir unter dem Purpurbaum gefunden hatten. Kein Wunder, dass sie alle Standard-Freizeitkleidung getragen hatten.
»Das verstößt gegen die Regeln«, entfuhr es mir. Ich war schockiert, nicht nur über die Morde, die hier begangen wurden, sondern auch über die arglistige Täuschung, die damit einherging. »Die Präfekten haben uns belogen! Es verstößt gegen alles, wofür Munsell steht.«
Jane schüttelte den Kopf. »Rein technisch gesehen hast du unrecht«, sagte sie. »Es steht nur geschrieben, dass das Streben nach Harmonie von uns allen Opfer verlangt. Es wird nur nicht genau gesagt, was für Opfer. Schwere Arbeit, Selbstlosigkeit, Ziviler Gehorsam – und manchmal noch etwas anderes. Dabei bin ich nicht mal sicher, ob die Präfekten überhaupt
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