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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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wenn er längst genug abbekommen hatte. Er starrte weiter auf das Plättchen, bis er ganz benommen war. Er gestand, dass es Sally gewesen sei, die »Travis alle gemacht« habe, warf mir vor, ich sei ein Gauner und Betrüger, und dann bat er mich, Melanie zu sagen, er habe sie eigentlich ganz gern und es ginge ihm nicht nur um DasEine. Er erwähnte noch, Tommo sei nicht zu trauen, danach verlor er das Bewusstsein. Ich schob seine Augenlider hoch, damit die betäubende Farbtönung weiter in seinen Kortex abstrahlte, dabei spürte ich, dass ich zitterte. Ich mochte Courtland nicht einmal besonders, er hatte immerhin versucht, mich umzubringen, dennoch liefen mir jetzt Tränen über die Wangen. Nach fünf Minuten tauchten die ersten grauen Ranken auf seinen Lippen auf, und wir konnten dabei zusehen, wie eine kuchenartige Substanz aus seinen Ohren, Nasenlöchern und Tränendrüsen hervorspross. Ich hielt ihm die Augen geöffnet, und er ertrank förmlich in Lincoln – kein ganz so angenehmer Exitus wie mit der Traumfarbe, aber einigermaßen schmerzlos. Nach weiteren zehn Minuten hatte das Gewächs seine Lunge erobert, seine Atmung ging schwerer, dann setzte sie ganz aus. Ich legte einen Finger an seinen Hals und ließ ihn dort liegen, bis sein Puls sich ganz verlor.
    Ich stand auf und ging ein paar Schritte, um kurz nachzudenken.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Jane. »Komm mir jetzt nicht komisch. Ich habe mich hier in eine gefährliche Lage gebracht, und das nur für dich.«
    Ich schluckte meine Wut und meine Abscheu herunter und holte tief Luft.
    »Also gut«, sagte ich und wandte mich ihr zu, »wir können gehen.«
    »Nein, noch nicht.«
    Sie packte Courtland an den Armen und wies mich an, seine Beine zu nehmen. Zusammen trugen wir ihn in den Wald, bis wir zu einer Gruppe Yateveobäume kamen, dort hievten wir ihn hoch, stellten ihn am Rand des Schwenkbereichs der Bäume auf die Beine und ließen ihn nach hinten fallen. Eine blitzartige Bewegung, und innerhalb von Sekunden hatte der Baum ihn in seinem Stamm deponiert. Aus seinem Ranzen flogen in hohem Bogen die vielen Löffel und fielen mit einem melodischen Klimpern zu Boden.
    »Ich ziehe meine Tarnung immer bis zum Ende durch, wenn es eben geht«, sagte Jane. »Ich will nicht auffliegen, nur weil ich meine Hausaufgaben nicht gemacht habe. Und jetzt komm, es ist spät.«
    Wir verließen den Yateveohain über einen schmalen, sicheren Korridor, der zwischen den raumgreifenden Bäumen verlief.
    »Du hast gesagt, der Bote sei eine fehlende Seite in einem verloren gegangenen Buch. Was meinst du damit?«
    »Das war ein bisschen übertrieben. Die Wahrheit ist nicht verloren gegangen, sie ist hier, in unseren Köpfen.«
    Sie tippte sich an die Stirn.
    »Wir sind komplizierter, als man denkt. Vielleicht sogar komplizierter, als man überhaupt denken kann. In unserem Kopf ist lauter Zeug eingesperrt, zu dem wir ohne die richtige Kombination von Farbtönen einfach keinen Zugang haben. Pukas, Erinnerungsschübe, Induktionsstörungen, Mehltau, Lincoln, Limone, Gordini, das ist alles nur ein Bruchteil. Es gibt viel mehr. Viel, viel mehr. Wir haben gerade mal einen Fuß ins Wasser gesetzt.«
    »Wie funktioniert es denn?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Ich habe keine Ahnung. Aber ich glaube nicht, dass wir die erste Gesellschaft sind, die das sichtbare Spektrum zum Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens erklärt hat. Vor uns hat es schon eine andere gegeben. Eine bessere. Eine, die schiefgelaufen ist oder ersetzt wurde. Sie hat uns einiges hinterlassen. Nicht nur die Chromatikologie und den Mehltau, sondern auch eine eigenständige Geschichte, die nur durch etwas so Hochkomplexes wie eine subtile Farbmischung zugänglich wird.«
    »Rostberg«, sagte ich. »Die ausgemalte Decke.«
    »Als du dir die Violetttöne angeguckt hast, hast du darin zum Teil auch eine Botschaft erblickt. Aber das Deckengemälde ist noch nicht soweit, dass man sie zum Sprechen bringen könnte. Wenn es fertig ist, wissen wir vielleicht auch mehr über das Große Ereignis. Vielleicht erfahren wir sogar, was es mit Munsells Epiphanie auf sich hat.«
    Ich überlegte, was das heißen könnte.
    »Zane wollte neulich in Zinnober Farben kaufen, nicht?«
    Sie nickte.
    »Wir müssen das Wandgemälde vollenden. Wenn wir auch nur den Hauch einer Chance haben wollen, die Zentrale und die chromozentristische Hierarchie zu schlagen, müssen wir wissen, wie es dazu gekommen ist. Ocker hat die Muster gestohlen, um sie gegen Farbe zu

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