Grau - ein Eddie Russett-Roman
verfallen war und die Flaktürme nicht mehr gebraucht wurden, hat man das Perpetulit zum Absterben gebracht, um Besucher fernzuhalten. Von Hoch-Safran durfte man nicht zurückkehren, und deswegen ist auch nie jemand zurückgekehrt.«
»Bis jetzt«, sagte Courtland.
»Bis jetzt«, wiederholte Jane. »Sag mal, Courtland, als ihr gestern in der Grauen Zone wart, angeblich, um die Stuhlzählung durchzuführen, habt ihr da nach etwas Bestimmtem gesucht?«
»Was denn zum Beispiel?«
»Unzulässige Überzählige.«
Sein Erstaunen war nicht gespielt. »Gibt es einen in Ost-Karmin?«
»Sogar sechzehn«, sagte Jane bereitwillig, »und fünf von ihnen sind blind.«
»B-Wort?«, fragte er ungläubig. »B-Wort? Also ohne Sehvermögen?«
»Mrs Olive ist seit zweiundzwanzig Jahren blind«, sagte Jane und sah mich an. »Man braucht also keine Angst vor der Nacht zu haben, wie sie uns immer einreden. Das ist Blödsinn.«
»Niemand überlebt die Mehltau-Variante B. Wie soll das möglich sein?«, fragte Courtland, nicht ohne Grund. »Sobald das Augenlicht erlischt, setzt die Fäulnis ein, und der Horror der ewigen Dunkelheit bleibt einem erspart.«
»Das ist kein Horror«, sagte Jane. »Überhaupt nicht. Sie haben einfach die Nacht zur Barriere erklärt, um die Bewegungsfreiheit einzuschränken. Menschen ohne Augenlicht, die keine Angst vor der Dunkelheit haben, würden ihnen dabei nur das Spiel verderben.«
»Die Nacht eine Barriere?«, sagte Courtland. »Warum?«
Ich sah zu Jane. Das wäre auch meine Frage gewesen.
»Früher, vor der Epiphanie, gab es Orte, die Gefängnisse hießen. Dort wurden diejenigen, die ohne Meriten waren, gegen ihren Willen festgehalten.«
»Das klingt schrecklich barbarisch«, sagte ich.
»Gefängnisse gibt es heute immer noch«, sagte sie. »Nur bestehen die Mauern heute aus Angst, aus Tabus und aus Unwissenheit.«
»Aber warum haben diejenigen, die ohne Augenlicht sind, keinen Mehltau bekommen?«, fragte ich. »Das verstehe ich nicht.«
»Sie haben Variante B aus einem ganz einfachen Grund nicht bekommen. Sie waren in ihren Dachkammern in Sicherheit, und sie waren dort glücklich und zufrieden«, erklärte Jane. »Nicht ein einziger Überzähliger hat je Mehltau bekommen. Das ist doch bezeichnend, findest du nicht?«
Ich hatte genug gehört. Ich wollte nicht noch mehr erfahren, als ich nun schon wusste, nicht mehr, als dass am Ende der Fahrt mit dem Nachtzug der Tod wartete und dass die Zentrale diejenigen, die die Ordnung störten, an eine uralte Technologie verfütterte. Für heute reichte es, es reichte für eine ganze Woche, nein, für immer .
»Wir müssen weiter«, sagte ich, diesmal etwas energischer. »Wenn wir bei Sonnenuntergang-minus-eins nicht an der Kahlen Landspitze sind, können wir uns auf eine grässliche Nacht in dem Faraday’schen Käfig einrichten. Courtland, Jane, los, wir gehen.«
Jane rührte sich nicht vom Fleck, Courtland ebenfalls nicht.
»Ich fühl mich irgendwie komisch«, sagte er. »Und ich kann meine Ellbogen nicht spüren.«
Ich fasste mich an die eigenen Ellbogen, aber konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Ich sah mir Courtlands Fingernägel an. Sie waren gut einen Zentimeter gewachsen, und das konnte nur eine Ursache haben.
»Die Fäulnis«, sagte er mit leiser Stimme, in der weniger Angst mitschwang als vielmehr Trauer und das Gefühl der Unausweichlichkeit. »Und weit und breit kein Grünes Zimmer. So ein verdammtes Pech. Das einzig Gute am Abnippeln ist doch, dass man sich wenigstens Grünes Licht geben kann.«
»Nein, nein, nein«, sagte ich und fasste mir an die Schläfen. »Jetzt nicht auch noch Mehltau, das ist einfach zu viel!«
Tränen stiegen mir in die Augen, und ein würgendes Schluchzen schüttelte mich, als mir plötzlich alles klar wurde und die Welt, so wie ich sie kannte, zusammenbrach. Die Yateveobäume und das Perpetulit von Hoch-Safran töteten niemanden – sie fegten einfach nur die Überreste zusammen.
»Es ist so, wie ich gesagt habe«, murmelte Jane. »Alles ist wunderbar, aber hinter der Tür wütet ein Feuer. Es tut mir leid, aber wenn wir beide gemeinsam mit dem Feuer spielen wollen, dann musst du die Tür aufstoßen und die Hitze auf deinem Gesicht spüren. Dich vielleicht sogar ein bisschen verbrennen. Wenn eine Narbe bleibt, vergisst man nicht so schnell.«
»Mehltau ist gar keine Krankheit, oder?«
Sie holte tief Luft und drückte meine Hand.
»Es ist eine Farbe. Ein grünliches Rot, das ich Gier nenne. Die
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