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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eichborn-Verlag
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Etrusker- und Klein-Tönungen, die bei den jährlich stattfindenden panchromatischen Gartenfesten der Familie den Geist freisetzen und den Kortex reizen sollten.
    Dann waren wir am Laden und der Farbwunderwelt vorüber, und der Besuch des Kaninchens, der uns eben noch so fantastisch erschienen war, wirkte mit einem Mal dumpf und sinnlos. Der Bahnhof lag in der Richtung, in die wir liefen, an diesem Geschäft würden wir also heute nicht noch mal vorbeikommen, wenn überhaupt je.
    Plötzlich ein Schrei, eine Rangelei, ein Aufprall, noch ein Schrei, und Sekunden später lief ein NationalColor-Angesteller auf die Straße.
    »Du da!«, sagte er und zeigte auf den erstbesten Grauen, den er erblickte. »Schnell! Einen Mustermann! Beeil dich!«
    Es gibt Momente im Leben, da kommt einem das plötzliche Unwohlsein oder gar der Tod eines anderen Menschen gelegen. Dies war so ein Moment, denn mein Vater war ein Mustermann, und das Pech eines Fremden konnte mir hier vielleicht Zugang zu dem Farbengeschäft verschaffen, wenn auch nur für ein paar Minuten. Ich zog meinen Vater am Ärmel.
    »Dad … ?«
    Er schüttelte den Kopf. Er fühlte sich nicht verantwortlich. Es gab genug andere Heiler in Zinnober, und wenn die Situation außer Kontrolle geriet, würde er am Ende noch schlechtes Feedback abkriegen. Ich musste mir schnell etwas einfallen lassen. Ich tippte auf mein Handgelenk, wo ich sonst eine Uhr trage, und stellte dann die Hände wie Kaninchenohren an den Schläfen auf. Mein Vater begriff sofort, machte auf dem Absatz kehrt und lief zurück zu dem Farbengeschäft. Die Wahl zwischen einem schlechten Feedback und der Möglichkeit, der Besichtigung des Kaninchens zu entkommen, war für ihn keine echte Wahl. Für mich war die Sache damit gelaufen. Wir sahen uns das Letzte Kaninchen doch nicht an, und ich war auf dem besten Weg, von einem Yateveobaum verschlungen zu werden.
    Kaum hatten wir das Geschäft betreten, kitzelte mich der süßliche Geruch synthetischer Farbe in der Nase. Es war ein unverkennbarer Duft, eine seltsame Mischung aus verschmorten kandierten Äpfeln, Reispudding und Mottenkugeln. Er erinnerte mich an die jährliche Erneuerung der Farbanstriche, die ich als Kind miterlebt hatte. Wir stellten uns windabwärts von den Anstreichern auf und atmeten tief durch die Nase. Der Geruch frischer Farbe war unweigerlich mit den Vorbereitungen für die Feierlichkeiten am Gründungstag verbunden und mit Renovierungsarbeiten.
    »Wer sind Sie?«, fragte der Blaue Colorist, der den Grauen losgeschickt hatte und misstrauisch das Rote Farbkennzeichen meines Vaters beäugte.
    »Holden Russett«, sagte Dad. »Mustermann, Klasse II , Urlaubsvertretung.«
    »Gut«, lautete die schroffe Antwort. »Dann legen Sie mal los.«
    Während mein Vater sich hinkniete und sich um den Patienten kümmerte, sah ich mich neugierig um. An der Wand hingen Proben aller universell sichtbaren Farbtöne der NationalColor-Skala, eine Anleitung »für den schmalen Geldbeutel«, wie man seinen Garten selbst coloriert, und ein Plakat, das für eine brandneue Farbe warb, die erst kürzlich der Großen Farbmusterpalette hinzugefügt worden war: ein Gelbton, der es ermöglichte, Bananen von Zitronen und Vanillepudding chromatisch zu unterscheiden. Es gab auch Schablonen aus Seidenpapier für Wandgemälde im Maßstab eins zu eins, mit nummerierten Umrissen zur einfachen Übertragung, und neben der Theke standen Mischtrommeln, Malerstöcke, Verdünner, Reabsorbenzien, Pinsel in allen nur erdenklichen Stärken und – für die prestigeträchtigen Großflächenarbeiten – Farbrollen. Hinter den Farbeimern erkannte ich auch den Eingang zum Magnolienzimmer, in dem Kunden vor dem Genuss eines besonders zarten Farbtons ihre persönliche visuelle Farbpalette reinigen konnten.
    Dad stieß mich an, und ich kniete mich neben ihn. Der Patient war ein gut gekleideter Herr im fortgeschrittenen Alter von etwa sechzig Jahren. Er lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite, die Augen blickten ausdruckslos in die Ferne. Offenbar hatte er bei seinem Sturz einen blauen Farbtopf umgeworfen, denn die Angestellten waren eifrig dabei, mit Schippen und Kellen die kostbaren Pigmente vom Boden aufzunehmen und wieder in den Topf zu befördern.
    Dad fragte den Mann nach seinem Namen und klappte, als er keine Antwort erhielt, rasch seinen Reisemusterkoffer auf, woraus er einen Monitor entnahm, den er an ein Ohrläppchen des Mannes anschloss.
    »Halt mal seine Hand, und achte auf seine

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