Graue Schatten
Strobe.
„Welches Motiv sollte mein Mandant haben?“, wollte Dr. Klammer wissen.
„Angst vor Verlust seines Wohlstandes, seines Vermögens. Wir wissen, dass ihm durch die Pflegeheimkosten von den Einkünften aus der Firma so wenig zum Leben blieb, dass ihm gewiss nichts anderes übrig bleiben konnte, als sein Erspartes anzugreifen.“
„Das ist ja unerhört, was der sich hier rausnimmt!“, ließ Sausele nun hören.
„Ich möchte mich noch einmal mit meinem Mandanten unter vier Augen beraten“, sagte Dr. Klammer nur.
Strobe fand, das war ein gutes Zeichen, und ließ sie allein.
Während des Gesprächs, das Rechtsanwalt Dr. Klammer mit Frieder Sausele in einem Nebenzimmer führte und das sich belastend in die Länge zog, war der Hauptkommissar nicht ansprechbar. Er saß Schell gegenüber an seinem Schreibtisch und grübelte vor sich hin. Er fragte sich, ob es vielleicht diesmal doch nicht richtig gewesen war, auf seinen Bauch zu hören und die spontane Aktion zu starten.
Als nach mehr als einer halben Stunde Dr. Klammer hereinkam und sagte, sein Mandat werde ein umfassendes schriftliches Geständnis ablegen, fiel ihm ein dermaßen schwerer Stein vom Herzen, dass er fürchtete, die anderen hatten ihn plumpsen gehört.
Sauseles Anwalt redete noch etwas von einem skrupellosen Gangster, der seinen Mandanten in die Enge getrieben und regelrecht erpresst habe, um das Geld für die Tötung der Frau zu kassieren. Und dass kein Grund für eine Untersuchungshaft bestehe. Aber das berührte Strobe nur noch peripher. Er hatte so gut wie gestanden! Der Hauptkommissar entgegnete selbstsicher, dass dies der Haftrichter zu entscheiden habe.
Als der Rechtsanwalt gegangen war, hatte er den Kopf wieder frei, und konnte sich auf die Unterhaltung einlassen, die Schell schon vorher vergeblich anzufangen versucht hatte. Der hatte rekonstruieren wollen, wie das Verbrechen innerhalb des Sonnenweiß-Stifts abgelaufen war, dies aber schnell aufgegeben gehabt, weil Strobe nur einsilbig und mürrisch reagiert hatte.
„Was hattest du vorhin gesagt? Der Mörder muss über Sauseles Balkon aus dem Heim geflüchtet sein?“, nahm er nun Schells Faden wieder auf.
Schell schaute hinter dem Bildschirm hervor.
Strobe fuhr fort: „Hab ich mir auch so gedacht. Die anderen Außentüren waren verschlossen. Da müsste man noch mal bei Linde nachhaken, ob die Balkontür verschlossen war.“
„Und bei den Pflegerinnen, die die Tote am Morgen danach gerichtet hatten.“
„Richtig.“
„Kovalev schleicht sich also nachts auf die Station“, rekonstruierte Schell weiter. „Er kommt durchs Treppenhaus hoch, hört Lindes Schritte von rechts, aus dem rechtwinkligen Gang von Station A. Linde kommt aus dem Ruheraum, weil diese Bewohnerin, Else Schmidt, den Schwesternnotruf betätigt hat. Kovalev flüchtet in das nächstbeste Zimmer, also Nummer 213, schräg gegenüber vom Treppenhaus. Dort wurde er von Frau Degner bemerkt – der graue Schatten. Er wartet dort, bis Linde wieder gegangen ist, schleicht sich in Sauseles Zimmer zwei Türen weiter, begeht die Tat, türmt durch die Balkontür, springt die eineinhalb Meter runter auf den Gehweg und das war's. Job erledigt.“
„Genau so könnte es sich abgespielt haben“, bestätigte Strobe. „Andererseits, warum ist er nicht in Zimmer 214 geflüchtet, als er den Pfleger kommen gehört hat? Vom Treppenhaus aus wäre das die nächstliegende Tür gewesen, direkt gegenüber.“
„Weil das näher am Nordflügel liegt. Er wusste sicher nicht genau, wieweit die Person weg war, die sich von Station A kommend genähert hat. Er hat vielleicht damit gerechnet, dass Linde noch mitbekommt, dass eine Tür zugeht.“
„Das ist möglich. Aber diese Unwissenheit des Mörders lässt mich noch eine andere Möglichkeit in Betracht ziehen: Er war so abgebrüht, dass er selber an der Tür von Nummer 214, also bei Frau Schmidt, auf den Klingelknopf gedrückt hat. Denn sie war es ja laut ihrer und Lindes Aussage nicht.“
„Warum sollte er das machen?“
„Ablenkung. Wie du schon gesagt hast: Er konnte den Gang von Station A nicht einsehen, hat vielleicht Geräusche von dort gehört oder Licht gesehen oder er wusste einfach, dass sich da gewöhnlich die Nachtwache aufhielt. Wenn er nun direkt in das Zimmer der Sausele gegangen wäre, hätte er riskiert, gesehen zu werden. Das Zimmer liegt ja genau an der Stirnseite des Nordflügels, also für jemanden der sich auf Station A befindet sozusagen auf dem
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