Graue Schatten
gar nichts.“
Mit dieser Anspielung Bettis waren sie wieder bei Kevins Job angelangt. Es würde wie immer in eine Sackgasse führen, wenn Larissa darauf einginge. Deshalb berichtete sie eilig, wie ihr gestriges Gespräch mit Kevin geendet hatte: „Er hat dann nur noch gesagt, dass es, deinem Brief nach, dann ja wohl endgültig sei. Und auch, weil du deine Schlüssel dagelassen hättest. Und er müsse sowieso mal wieder zu sich selber finden. Insofern sei die Trennung gerade richtig gekommen ... Und das war's eigentlich schon. Ich sehe ihn ja am Donnerstag wieder im Geschäft.“
„Ja ja, Blabla. Das ist typisch Kevin. Was soll das heißen, ‚er müsse wieder zu sich selber finden‘? Hab ich ihn gehindert, er selbst zu sein? Wenn er sich in seinem Job nicht so verwirklichen konnte, wie er sich das vorgestellt hatte, dann hat das ja wohl nix mit mir zu tun!“
Larissa verdrehte die Augen, jetzt war ihre Freundin doch wieder beim Thema Nummer eins gelandet. Und anscheinend war sie nicht mehr zu stoppen. Obwohl Betti mit allem, was sie sagte, recht hatte, hörte Larissa nur noch halb zu, denn sie konnte es auswendig: Kevin, der ach so Coole, der seinen Worten nach nie irgendwelche Probleme im Geschäft habe, der nie viel erzähle von dem, was so im Heim passierte, vor allem nicht, wenn es mit ihm persönlich zu tun habe, und die arme Betti, die immer, wenn Larissa sich mit Kevin über Heiminterna unterhielten, erst fragen müsse, worum es eigentlich ging.
„... Wenn die Leute nicht bei uns Patienten gewesen wären, hätte ich nie von den Todesfällen während Kevins Nachtschichten erfahren“, hörte Larissa ihre Freundin nun sagen. „Und Sonntagnacht ist schon wieder eine gestorben.“
„Ja, Frau Sausele,“ bestätigte Larissa.
„Wie war er denn so drauf am Montagmorgen?“, wollte Betti wissen und beantwortete die Frage gleich selbst: „Wie immer, oder? Cool drauf, locker aufgelegt, bisschen müde vielleicht, aber sonst – alles paletti.“
Komisch, warum sie so übertrieb? Ein Eisberg war Kevin ja nun auch wieder nicht. „Nee, da kann ich dir nicht recht geben. Er sah ziemlich überarbeitet aus, fertiger als die Tage davor“, antwortete sie.
Betti ging nicht darauf ein, sondern wetterte weiter. „Da sterben innerhalb von zehn Tagen drei Patienten, oder Bewohner von mir aus. Alle auf einer Station, alle während Kevins Nachtdienst. Keiner davon stirbt unter normalen Umständen. Und der tut so, als ob das alles normal sei, als ob so was jede Woche passieren würde und ihn das völlig kalt ließe.“
„Er kann es eben nicht ablegen, den starken Mann zu spielen. Früher hat dir das gefallen“, entgegnete Larissa und dachte: Zumindest bei Betti schien er das nicht abzulegen. Larissa gegenüber sprach er schon mal das eine oder andere seiner Probleme an, wenn auch ... „Er ist halt nicht sehr direkt“, dachte sie laut zu Ende.
„Aber da ist noch etwas ...“, hörte sie Betti unvermittelt sagen.
„Was? Mit Kevin?“, fragte Larissa vorsichtshalber, in der Hoffnung, ihre Freundin würde mit Nein antworten. Aber Larissa wusste es ja: Es musste noch etwas anderes vorgefallen sein!
Betti zögerte einen Augenblick. „Ja, mit Kevin. Aber das erzähle ich dir nicht am Telefon.“
„Du kannst jederzeit bei mir vorbeikommen, wenn du Lust hast.“ Das müsste sie Betti ja eigentlich nicht mehr sagen ... Larissa wartete gespannt. Doch Betti erwiderte nichts.
Was ist mit ihr los?, dachte Larissa. Aber wenn sie jetzt anfinge zu drängen, würde es noch länger dauern, bis sie es erfuhr. Sie kannte Betti, deshalb wechselte sie freiwillig das Thema.
„Wann lerne ich deinen Andrej kennen?“, fragte sie, obwohl sie es damit keineswegs so eilig hatte. In ihrem Hinterkopf spukte immer noch der Gedanke, dass ihre Freundin irgendwann zu Kevin zurück finden und alles so wie vorher werden würde. Larissa hasste radikale Veränderungen.
„Heute geht's nicht. Wir müssen noch zu Ikea“, antwortete Betti hastig und ein wenig aufgeregt, so als habe sie sich schnell eine Ausrede aus den Fingern gesaugt. „Andrej ist auch noch nicht sehr lange in der Wohnung. Wir sollten uns noch ein bisschen einrichten, es fehlt noch einiges.“
„Ist okay“, erwiderte Larissa trotzdem mehr erleichtert als enttäuscht. Dann musste sie plötzlich daran denken, dass sie vor fünf Jahren zu dritt die Möbel für Bettis und Kevins gemeinsame Wohnung angeschaut und gekauft hatten. Aber das war ja etwas anderes gewesen.
Betti
Weitere Kostenlose Bücher