Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Graue Schatten

Graue Schatten

Titel: Graue Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Nimtsch
Vom Netzwerk:
schließlich resigniert. Er hätte noch andere Möglichkeiten zur Weiterbildung gehabt. Manchmal dachte Larissa, mit seinen beeindruckenden medizinischen Kenntnissen hätte Kevin lieber Arzt als Krankenpfleger werden sollen, noch dazu einer, der in einem Altenheim arbeitete. Doch zu so etwas fehlten ihm vor allem der Ehrgeiz und auch ein bisschen die Ernsthaftigkeit. Aber eigentlich hatte er auch Betti zuliebe auf eine Karriere verzichtet. Das hatte er nie zugegeben, doch Larissa wusste es.
    Bei Kevin musste man nur genau hinhören. Auch Larissa hatte eine Weile gebraucht, bis sie zwischen den Zeilen hören konnte, was er sagen wollte. Wenn er ihr gegenüber lockere Sprüche klopfte wie: „Schon wieder früher fertig? Du bist ja schneller als Schumi“, oder das nächste Mal ironisch: „Du hast das ja massiv vierlagig drauf mit der Fließbandpflege ...“, dann wollte er nichts anderes sagen, als dass der Perfektionist bei all seinem fachlichen Wissen und all seinen Fähigkeiten morgens nicht damit klarkam, in der vorgegebenen Zeit eine bestimmte Anzahl Bewohner zu richten. Und dass er einen Tipp brauchte. Dass er erfahren wollte, was er falsch machte. Den nahm er, zumindest von Larissa, dann auch an. Auch wenn sie ihm, natürlich unter vier Augen, so unangenehme Sachen sagte, wie, dass er sich manchmal mit unwichtigen Dingen aufhielt, dass er alles schulmäßig machen und nicht wahrhaben wollte, dass Theorie und Praxis zwei Paar Stiefel waren. Das wusste er alles selber, er war ja nicht blöd. Aber ab und zu musste ihn einfach jemand daran erinnern.
    Wenn man allerdings so wie Betti nicht viel davon mitbekam, was sich in Kevins Innerem abspielte, dann redete man sicher nur aneinander vorbei. Und das hatten die beiden oft getan – aneinander vorbei gestritten.
    Nachdenklich den Kopf schüttelnd dachte Larissa an einige der Folgen des alten Dilemmas zurück, ohne zu ahnen, dass es sich bald als viel folgenschwerer erweisen sollte, als sie sich vorstellen konnte.

Mittwoch

    Larissa nahm die Getränkekiste und die Einkaufstüten aus dem Kofferraum ihres gelben Peugeot 206 Cabrio und eilte schwer bepackt zu ihrer Wohnung hinauf. Sie fürchtete, Betti könnte inzwischen angerufen haben. Deshalb stellte sie auch die Sachen gleich im Flur ihrer Wohnung ab und lief ins Wohnzimmer. Der Anrufbeantworter blinkte nicht.
    Es war kurz vor vier. Um diese Zeit war Betti manchmal schon zu Hause, je nach Dienst. Die Dienstpläne waren in Dr. Hansens Praxis noch komplizierter als im Heim.
    Nachdem Larissa die Lebensmittel eingeräumt hatte, ließ sie sich mit einer geöffneten Schokolade auf die Couch fallen. Eigentlich wäre es nicht schlecht, zu wissen, wann Betti fertig ist, dachte sie. Dann könnte ich ein bisschen planen und wüsste, was sich noch anzufangen lohnt. Die Schmutzwäschetruhe war voll und im Schlafzimmer stand noch ein Korb mit Sachen aus dem Trockner. Aber wenn Betti im nächsten Moment anriefe, dann würde sich's nicht lohnen, mit Wäsche waschen oder bügeln anzufangen.
    Die Füße auf dem Couchtisch, in der linken Hand die Ecke Schokolade, die nicht mehr in den Mund passte, tippte sie die Kurzwahltaste für die Praxis Dr. Hansens. Waltrud, die resolute Sprechstundenhilfe der ersten Stunde, ging ans Telefon. Bettina sei gerade gegangen.
    Dann wird sie sich in den nächsten Minuten melden, dachte Larissa. Sie holte einen Korb Kochwäsche aus dem Schlafzimmer, stopfte sie in die Maschine und schaltete sie ein. Die könnte sie ja laufen lassen. Aber mit dem Bügeln anzufangen, das würde sich nicht lohnen.
    Die Waschmaschine rumpelte. Larissa schaute in den Spiegel über dem Waschbecken und fand, sie könnte die Minuten bis zum bevorstehenden Anruf überbrücken, indem sie ihre Brauen zupfte.
    Nachdem Larissa eine ganze Weile vor dem Spiegel gestanden, mit der Pinzette ihre Augenbrauen gelichtet hatte und inzwischen kein überflüssiges Haar mehr fand, wurde sie ungeduldig.
    Sie griff zum Telefon und versuchte Betti auf dem Handy zu erreichen. Nur die Mailbox meldete sich. Bemüht, möglichst entspannt zu klingen, sprach sie eine Nachricht auf: „Ich bin's nur, Lara. Ich wollte wissen, ob sich's noch lohnt, das Bügeleisen anzustecken. Kann ja sein, du musst noch schnell beim Ikea eine Schrankwand holen. Also melde dich mal kurz, wenn du so weit bist. Bis gleich.“
    So, jetzt bin ich so schlau wie vorher, ärgerte sich Larissa.
    Sie holte das Bügelbrett aus dem Schlafzimmer und stellte es im Wohnzimmer auf.

Weitere Kostenlose Bücher