Graue Schatten
redete weiter: „Ich hatte dir ja schon erzählt, er hat eine Catering-Firma. Und da muss er oft nachmittags und abends arbeiten. Diese Woche auch. Außer heute.“
„Kein Problem“, entgegnete Larissa und dachte: ‚Abends arbeiten‘, das hatten wir doch schon.
„Du, ich hab jetzt nicht mehr viel Zeit, wir wollen gleich los, wenn Andrej heimkommt. Aber morgen, wenn er weg ist, können wir irgendwo hingehen und quatschen.“
„Was hältst du vom Venezia?“, schlug Larissa vor.
„Okay, machen wir. Also dann bis morgen. Ich muss noch meine Haare machen“, drängelte Betti.
„Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?“, fragte Larissa. Betti klang seltsam gehetzt. Als ob ihr Freund plötzlich hinter ihr stünde und sie nun nicht mehr offen reden könnte.
„Klar, bei mir ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich rufe dich dann morgen an, sobald ich zu Hause bin, okay? Dann erkläre ich dir auch, wo du mich abholen kannst.“
„Gut, dann bis morgen“, resignierte Larissa. Momentan war offensichtlich nicht mehr aus ihr rauszuholen.
Was ist bloß mit ihr los?, fragte sich Larissa wieder, als sie aufgelegt hatte. Und was war da am Sonntag vorgefallen? Warum war ihre Freundin so seltsam? Was hatte Betti vorhin angedeutet? Was wollte sie nicht am Telefon erzählen?
Larissa ging zum großen Wohnzimmerfenster. Drüben im Sonnenweiß-Stift war alles hell erleuchtet. Es war die Zeit, zu der das Abendessen beendet war. Larissa sah im ersten Stock jemanden umherflitzen. Sie konnte sogar erkennen, wer: Max, ein Altenpflegeschüler. Er räumte die Tische ab. Sie blieb am Fenster stehen und starrte eine Weile zum Heim hinüber. Als Max noch einmal am Fenster zu sehen war, musste sie unwillkürlich wieder an Kevin denken.
Sie kannte ihn schon seit sie vor acht Jahren im Sonnenweiß-Stift angefangen hatte. Er hatte in Heilbronn Krankenpflege gelernt, war aber bald in die Altenpflege gewechselt, weil er gemeint hatte, da besser Kariere machen zu können, und weil er nichts mehr mit der Gerätemedizin zu tun haben wollte. Die Karrierepläne hatte er allerdings schon lange aufgegeben. Und die intensivmedizinischen Geräte, die er nicht mehr sehen wollte, hielten im Sonnenweiß-Stift schon lange Einzug.
Zuerst hatten sie auf unterschiedlichen Stationen gearbeitet, aber auch da hatten sie sich schon ab und zu unterhalten und von Anfang an gut verstanden. Später waren sie auch privat zusammen mit der Clique unterwegs gewesen und bald gute Freunde geworden. Inzwischen war er der einzige von der früheren Clique, der noch in Lauffen wohnte.
Eigentlich war Kevin genau ihr Typ. Ruhig und trotzdem witzig, fand sie. Wenn er nicht durch sie Betti kennengelernt hätte, wer weiß ...? Sie verstanden sich eigentlich besser, als das bei dem verflossenen Paar jemals der Fall gewesen war. Komisch. Sie funkten irgendwie auf der gleichen Wellenlänge, natürlich rein platonisch, schließlich war er ja Bettis Freund ...
Gewesen! Die Tatsache, dass er es nicht mehr war, wurde ihr auf einmal wieder bewusst.
Wie waren Betti und Kevin überhaupt zusammengekommen? Larissa erinnerte sich nur noch daran, dass es bei den beiden Liebe auf den ersten Blick gewesen war. Dann war die Phase gekommen, in der die zwei ihre gemeinsamen Interessen ausgelebt hatten: Reisen, Party, Kino, Musik. Sie hatten wohl auch sonst in etwa gleiche Vorstellungen vom Leben gehabt. Zum Beispiel wollten beide keine Kinder.
Aber die Verschiedenheiten stellten sich nach und nach im Detail heraus: Kevin wollte eher Städte-Reisen machen. Betti wollte den Badeurlaub. Kevin hatte irgendwann die Diskos über, von denen Betti lange Zeit nicht genug kriegen konnte. Er hatte sie dagegen nie zu einem Theaterbesuch überreden können.
Und von diesen kleinen Unstimmigkeiten gab es noch einige mehr. All das war aber noch nicht tragisch, hatte Larissa schon lange erkannt. Viel verhängnisvoller war, dass sich Kevin selten direkt ausdrückte und Betti nicht wirklich gut zuhören konnte. Diese Konstellation wurde zum Problem, als Kevin erkannte, dass eine Karriere in der Altenpflege doch etwas anders aussehen würde, als er sich das früher vorgestellt hatte. Das heißt, als Kevins Unzufriedenheit wuchs. Pflegedienst- oder Heimleiter waren für ihn irgendwann keine erstrebenswerten Posten mehr gewesen. Er hatte sich ein Bild von diesen Jobs gemacht und die Leistung, die da verlangt wurde, mit den Gehältern verglichen.
„Das ist was für Idealisten“, hatte er
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