Graue Schatten
Rollstuhl geschoben wurde, für den war der Park groß genug für einen Spaziergang, der die Zeit zwischen zwei Mahlzeiten ausfüllte.
Obwohl Larissa inzwischen fror, blieb sie noch stehen und starrte auf den Park mit dem Wald dahinter. Geradezu malerisch der Anblick, selbst jetzt im tristen November, fand sie. Wie ein Kunstwerk, ein melancholisches Gemälde. Die Vergänglichkeit könnte es heißen.
Und schon war sie wieder bei der Arbeit. Sie musste an eine unangenehme Begebenheit des heutigen Morgens denken. Vor dem Mittagessen war eine neue Bewohnerin von ihrer überreizten Tochter gebracht worden. Sie hatte es für notwendig erachtet, gleich in den ersten Minuten im neuen Heim das Pflegepersonal herausfordernd darüber zu belehren, wie ihre Mutter zu versorgen sei. Mit erhobenem Zeigefinger hatte sie im Schwesternzimmer doziert, man müsse darauf achten, dass ihre Mutter nicht austrockne, dass das Essen nicht schon nach zehn Minuten wieder abgeräumt werde, dass die Mutter immer gefragt werden müsse, ob sie auf die Toilette müsse, und dann bitteschön auch dahin begleitet würde. Der Gipfel war, als sie erklärte, man dürfte ihre Mutter nie anschreien, weil sie sehr schreckhaft sei.
Obwohl das eigentlich ein dicker Hund gewesen war, hatte sich Renate nicht provozieren lassen, sondern die Frau beruhigt und ihr erklärt, wie das in diesem Haus gehandhabt wurde. Sie war einfach die Souveränität in Person.
Aber nicht nur das. Renate war überhaupt die beste Chefin, die Larissa je gehabt hatte. So wie die B die beste der fünf Stationen im Schattengrau war. Larissa hatte sie alle durch. Die Atmosphäre unter den Mitarbeitern der B konnte nicht besser sein. Vor allem in der Schicht, in der sie nun schon vor sechs Jahren gelandet war. Zwar hatte es ab und zu Personalwechsel gegeben, aber die Stammbesetzung war, seit Larissa angefangen hatte, gleichgeblieben. Also Renate, Irene, Kevin und sie selber.
Und dann gab es noch eine, die erst ein knappes Jahr bei ihnen war, die aber alle sehr ins Herz geschlossen hatten, vor allem Larissa: Anna. Wie oft hatte sich die Kleine schon bei ihr ausgeheult! Fast so oft wie damals Betti. Nur mit dem Unterschied, dass Betti immer zwei Tage nach den großen Tränen einen Neuen gehabt hatte. Während Anna der großen Liebe monatelang nachtrauerte und sich erst danach ins nächste Unglück stürzte. Jedenfalls ergänzte sie das Team hervorragend. Zerstreut war sie wohl, doch sie schaffte ihr Pensum genau wie die alten Hasen. Vielleicht nicht in der gleichen Qualität. Aber manchmal war es doch wirklich nicht so wichtig, ob die richtige Salbe aufgetragen wurde, wenn eine alte Frau sich freute, weil das junge Mädle so nett mit ihr plauderte.
Plötzlich schüttelte es Larissa vor Kälte. Sie lief zurück ins Wohnzimmer, ließ sich auf die Couch fallen und rieb sich ihre unterkühlten Arme.
Sie hatte heute zu nichts Lust, nicht mal zum Fernsehen. Ihre Muskeln taten weh. Betten auswaschen hatte auf der Tagesordnung gestanden. Das war immer eine Extraportion Schufterei.
Sie quälte sich noch einmal hoch, zog spontan eine Bon Jovi CD heraus, legte sie in den CD-Player und drückte erst auf die Wiederholungs-, dann auf die Sleep-Taste. Wieder auf der Couch, blätterte sie in der Fernsehzeitschrift und überflog das Programm des Abends. Dabei fielen ihr die Augen zu. Es war zehn vor drei.
Einen Moment später riss das Telefon sie hoch. Offenbar hatte Larissa fest geschlafen. Benommen griff sie zum Hörer auf dem Tisch und meldete sich mit ihrem Nachnamen.
„Ach grüß Gott, Frau Groß! Gut geschlafen?“, lästerte es aus dem Hörer. Betti!
„Ach du“, brummte Larissa und linste zur blauen Designeruhr ohne Zahlen. Der kleine Zeiger stand ungefähr auf fünf, der große war fast oben angekommen.
„Nette Begrüßung! Hast du schlecht geträumt?“, beschwerte sich ihre Freundin.
„Nee, aber ich habe anscheinend gerade zwei Stunden gepennt“, entschuldigte sie sich.
„Ach du Ärmste“, erwiderte Betti ironisch.
Larissa, nach wie vor noch nicht ganz in der Realität angekommen, fragte sich einen Moment lang, was mit ihrer Freundin nicht stimmte, bis ihr einfiel, dass sie ja Kevin verlassen hatte. Sie konnte es noch immer nicht richtig glauben und hatte es wohl deshalb gerade zum wiederholten Male erfolgreich verdrängt. Betti war zwar früher etwas sprunghaft gewesen, was Kerle betraf. Damals, während der Zeit ihrer gemeinsamen Ausbildung, hatte sie mehr Liebhaber gehabt
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