Graue Schatten
ohne Lockes Frage direkt zu beantworten.
Auch Anna enthielt sich und schob Kevin dafür großzügig eine halbe Orange rüber, sozusagen als kleines Dankeschön dafür, dass er sich auf ihre Seite geschlagen hatte. „Hier, Vitamine, damit du wieder zu Kräften kommst.“
„Welch rührende Fürsorge. Kevin, das ist ein Zeichen der Zuneigung. Hoffentlich weißt du das zu würdigen“, stänkerte nun Locke.
„Ich bin schon vergeben, die blöde Anspielung kannst du stecken lassen“, verteidigte sich Anna.
Locke grinste säuerlich.
Nun fragte Kevin Anna, ehrlich interessiert, ohne Ironie und ohne sie lächerlich machen zu wollen, ob sie damit Benito Lamenta meinte. Er hatte gehört, dass sie seit einiger Zeit unglücklich in den Sänger einer populären Boygroup verliebt war und ernsthaft daran glaubte, dass sie eines Tages mit ihm zusammen sein würde.
„Allerdings!“, erklärte sie selbstbewusst und fragte, ob jemand was dagegen habe.
Niemand hatte etwas dagegen, und auch Locke interessierte sich ernsthaft dafür. Er fragte sie, ob sie sich schon mal mit ihm getroffen habe. Als sie verneinte, ließen die beiden Jungs ihre Fantasie spielen und unterbreiteten ihr ein paar mehr oder weniger brauchbare Vorschläge, wie sie an ihren Angebeteten rankommen könnte. Die Tipps reichten vom Presseausweis, den Locke angeblich besorgen könne, bis zu Slips mit eingenähter Telefon-Nummer, die sie beim Konzert auf die Bühne werfen solle.
Anna fand das weniger lustig. Aber dann erklärte Kevin, dass das nicht böse gemeint sei, und sie solle ruhig an ihrem Traum festhalten. „Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten ...“, rezitierte Kevin unvermittelt mit theatralischer Geste. Darüber musste Anna herzlich lachen.
„Der Kulturfuzzi“, bemerkte Locke.
„Kulturbanausen!“, schimpfte Kevin.
Als Locke noch darauf hinwies, dass es bei Kevin gerade auch nicht so toll lief in der Liebe, war der Schwarze Peter endgültig an ihn weitergereicht. Anna war besänftigt. Kevin blieb nur, darauf hinzuweisen, dass die Pause leider schon wieder vorbei sei.
Als er aufstand, bemerkte er, dass sich Erich, dem er sitzend den Rücken zugekehrt hatte, irgendwann von ihm unbemerkt aus dem Raum geschlichen hatte, ohne sich zu verabschieden. Das ist nun auch wieder typisch für den Alten, dachte Kevin.
Die drei machten sich auf den Weg nach oben. Locke wollte auf den Aufzug warten. Er musste zwar auch nur in den ersten Stock, auf Station A. Die erstreckte sich von Station B aus gesehen gleich um die Ecke über den gesamten Nordflügel. Seiner Meinung nach sei aber Treppensteigen nach dem Essen ungesund. Obwohl Kevin heute auch lieber mit dem Aufzug gefahren wäre, nahm er mit Anna die Treppe. Das ging schneller, er hatte schließlich noch eine Menge Arbeit vor sich.
Als die beiden wieder im ersten Stock ankamen, herrschte auf der Pflegestation angenehme Ruhe.
Kevin warf einen kurzen Kontrollblick in den Aufenthaltsraum, der kein geschlossener Raum im eigentlichen Sinne war. Der lichtdurchflutete Bereich, in dem die meisten Bewohner der Station fast den ganzen Tag verbrachten, war nur durch eine Anrichte, die zwischen zwei eckigen Säulen stand, vom Flur getrennt. An den Säulen vorbei konnte man die abgetrennte Räumlichkeit mit den fünf Tischen für jeweils vier Personen von links oder rechts betreten. Der Bereich hatte für die Pflegekräfte den Vorteil, dass sie die Leute dort im Blick behielten, auch wenn sie gerade von einem zum anderen Zimmer den Gang entlang eilten. So konnte man schnell eingreifen, wenn sich eine Bewohnerin gerade Erde aus einem der Blumentöpfe vom Fensterbrett schmecken ließ, oder sich jemand dermaßen verschluckte, dass sie oder er zu ersticken drohte.
Im Moment saßen die Bewohner, vom Frühstück erschöpft und müde, stumm an ihren Plätzen und guckten Löcher in die Luft. Einige völlig teilnahmslos, scheinbar schon in einer besseren Welt. Nur zwei, drei schauten interessiert auf, als die beiden am Aufenthaltsraum vorbei in Richtung Schwesternzimmer gingen.
Kevin wollte noch etwas ins Berichtsblatt der Dokumentation von Frau Müller eintragen.
„Soll ich Frau Müller schon anziehen?“, fragte Anna.
„Gerne, wenn du gerade Zeit hast. Aber geh mit ihr vorher noch mal auf Toilette. Und nimm den Rollstuhl, das geht schneller. Ich bin hier gleich fertig.“
„Okay. Kein Problem.“
Anna entfernte sich in Richtung Aufenthaltsraum. Dann hörte er, wie sie
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