Graue Schatten
unten?“, begrüßte sie Kevin.
„Jawohl. Bis ins Erdgeschoss, wenn Ihnen meine Gesellschaft recht ist“, scherzte er und drückte auf E.
„Aber natürlich. Mit so einem schönen, jungen Mann alleine im Aufzug. Wenn das nichts ist.“
Der Aufzug setzte sich in Bewegung.
„Frau Kramer! Jetzt bringen Sie mich aber in Verlegenheit. Ich bin doch so schüchtern.“
Die Fünfundsiebzigjährige lachte herzhaft. „Ich glaube Ihnen kein Wort. Das ist bestimmt Ihre Masche, mit der Sie die Frauen einwickeln“, scherzte sie weiter. „Wollen Sie einen Spaziergang machen, bei den frostigen Temperaturen?“, wunderte sie sich dann.
„Nee, nee. Begleitschutz für eine Bewohnerin.“
Sie lachte wieder. Als der Lift mit einem Ruck hielt, fragte sie noch, wo man den Begleitschutz beantragen könne.
„Oh, den gibt’s nur in Ausnahmefällen“, teilte Kevin ihr mit, als er schon draußen stand. Die rüstige Dame wünschte Kevin einen schönen Tag.
„Ihnen auch, Frau Kramer. Und seien Sie vorsichtig mit jungen Männern!“
Der Lift fuhr mit der Bewohnerin ins Untergeschoss. Kevin bog rechts ab und ging um den Aufzug herum in den Nordflügel. Dort befanden sich im Erdgeschoss hinter den Küchen- und verschiedenen Lagerräumen auch die Mitarbeitergarderoben. Als er zwei Minuten später mit seiner braunen Nubuklederjacke über der weißen Dienstbluse den Nordflügel zurücklief, sah er, dass aus dem zweiten Fahrstuhl heraus, der sich genau auf der Rückseite des anderen befand, Licht durch den Türspalt schien. Das bedeutete, er stand gerade hier im Erdgeschoss. Kevin drückte auf den Knopf und ersparte sich so, um den Block mit den beiden Aufzügen herum bis zum Treppenhaus laufen zu müssen.
Als er an die Wand gelehnt nach unten fuhr, musste er plötzlich an Betti denken. Hier in diesem Fahrstuhl hatte er sie das erste Mal gesehen. Sie hatte ihren Chef, Dr. Hansen, bei dessen Visite im Heim begleitet. Durch Kevins überreiztes Hirn zuckten plötzlich Nervenblitze und stellten eine Verbindung zu einem Song her, den er gestern Abend gemeinsam mit Locke gehört hatte. Gleichzeitig schüttete in seinem Körper eine Drüse Endorphine aus, was dazu führte, dass er anfing, im Fahrstuhl die Melodie von Santanas Black Magic Woman zu pfeifen.
Als sich im Untergeschoss die Tür öffnete, sah er noch den Schatten von Frau Kramer, die den dämmrigen Nordflügel entlang in Richtung Wäschelager schlurfte. Rechts befand sich, im rechten Winkel zum Aufzug, die Tür zum Innenhof. Durch die Milchglasscheibe der Hoftür sah Kevin den Krankenwagen stehen. Pfeifend trat er hinaus in die kalte Luft. Die Sanitäter klappten gerade das Fahrgestell der Krankentrage aus. Anna und Frau Müller waren nicht zu sehen.
„Hi!“, begrüßte er die beiden jungen Männer. Sie grüßten zweistimmig zurück.
„Der Fahrgast ist noch unterwegs“, sagte er mehr zu sich selber und ging wieder hinein. Seine gute Laune war verflogen. Wo war die Tussi mit der Müllerin hin gelatscht? Am Aufzug drückte er auf den Knopf. Der Lift war schon wieder weg und hielt anscheinend gerade auf einem der oberen Stockwerke.
Vermutlich war Anna mit der Frau oben auf eine der Toiletten gegangen, in denen Kevin nicht nachgesehen hatte. Es gab aber auch hier im Kellergeschoss sanitäre Anlagen. Waren die beiden vielleicht dort?
Er schaute kurz in den durch Neonröhren erleuchteten Gang nach rechts. Der lange Flur war leer, Frau Kramer war gerade im Wäschelager verschwunden. Er schaute in die andere Richtung. Da stand ein Rollstuhl. Und zwar genau der, mit dem er am Morgen die Müller chauffiert hatte! Konnte das wahr sein?
„Anna!“, rief er ärgerlich. Machte sie womöglich hier unten Laufübungen mit der Frau? Aber wenn ja, warum dann nicht zum Krankenwagen?
Weil niemand antwortete, ging er um den Block mit den beiden Aufzügen herum. Er lief am Getränkeautomaten, der schräg gegenüber vom kleinen Lift im Westflügel stand, vorbei, dann am Treppenhauszugang, an verschiedenen Lagerräumen und dem Heizungskeller vorbei bis zur Toilette im Untergeschoss und riss die Tür auf. Seine Vermutung, Anna wäre mit Frieda Müller hierher gelaufen, bestätigte sich nicht. Die beiden inneren Türen standen offen, der Raum war leer.
Er lief zurück und wieder zweimal rechts um das Treppenhaus und den Aufzug herum.
Die beiden Sanitäter standen nun mit ihrer fahrbaren Trage vor dem Fahrstuhl und blickten Kevin an wie Patienten den Doktor, der ihnen gleich ihre Diagnose
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