Graue Schatten
dort versuchte, die Frau zum Aufstehen zu bewegen, in dem sie laut, aber doch irgendwie hilflos, auf sie einredete.
Kevin schlug den Ordner von Frieda Müller auf. Er las noch einmal den letzten Satz des ersten Berichtsblattes: BW hat beim zu Bett bringen geschrien wie am Spieß. Fr. Donner war dadurch sehr verstört . Unterzeichnet hatte Schwester Monika.
Sollte Frau Müller etwa doch Schmerzen haben? Heute Morgen hatte sie jedenfalls keine gehabt! Genau das würde er jetzt schreiben, und dass sie mit seiner Hilfe ein paar Schritte sehr langsam gelaufen sei, ansonsten aber nicht kooperativ war und in allen Bereichen desorientiert zu sein schien. Jedenfalls war nicht zu erkennen gewesen, dass die Frau irgendwas verstanden hatte.
Kevin hörte Anna nun leiser reden. Vermutlich versuchte sie der Müller ruhig zu erklären, worum es ging. Viel Erfolg!, dachte er und begann, seine Beobachtungen und Erkenntnisse einzutragen.
Von draußen hörte er wieder ein gequältes: „Frau Müller!“
Er hatte zwei Sätze geschrieben und war dann irgendwie einen Augenblick unkonzentriert abgeschweift, als es Alarm klingelte. Das musste nichts weiter zu bedeuten haben. Irgendjemand kam gerade nicht alleine zurecht und hatte bei eingeschalteter Anwesenheitslampe den Schwesternnotruf betätigt. Das wurde zuweilen praktiziert. Meistens war es vorher zwischen zwei Pflegekräften abgesprochen worden, und in so einem Fall hörte der Alarm schnell wieder auf.
Aber im Augenblick nervte Kevin das permanente, hässlich heisere Hupen, das im Sekundenabstand ertönte. Nach dem fünften oder sechsten Hupton entschied er nachzusehen. Doch gerade als er sich widerwillig erhob, hörte der Alarm auf.
Ihm war so, als hätte er Anna in der Toilette vor dem Aufenthaltsraum schreien gehört.
Sie hat es so gewollt, da muss sie jetzt durch, dachte er, schloss die Tür des Schwesternzimmers und schrieb weiter. BW hat beim Waschen heftig geschlagen, war nicht kooperativ, ...
Später hörte er, wie Anna heftig fluchend den Gang nach hinten polterte. Sie hatte die Frau wohl inzwischen doch auf der Schüssel absetzen können und holte vermutlich jetzt die Jacke aus ihrem Zimmer.
Dabei fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, seine Jacke aus dem Umkleideraum im Keller zu holen. Irgendwie war heute nicht sein Tag. Würden die Typen vom ASB halt kurz warten müssen.
Er notierte: Stimmung schlägt plötzlich von apathisch zu aggressiv um ... Anna war gerade wieder in die andere Richtung vorbeigedonnert. Wenn er jetzt noch zügig seine durchgeführten Leistungen abzeichnen würde, hätte er nachher mehr Zeit, kalkulierte er. Anna hatte sicher noch ein paar Minuten mit der Frau zu tun.
Als Kevin fertig war, blickte er zur Uhr. Punkt halb zehn! Er schlug den Ordner zu, hängte ihn in den Aktenwagen und stürzte auf den Gang hinaus.
„Bin schon da“, rief er, und dann, als er weder Anna noch Frau Müller sah, „Anna?“
An der Toilette, die gewöhnlich für die Bewohner im Aufenthaltsraum benutzt wurde, brannte die grüne Anwesenheitslampe. War Anna immer noch nicht fertig mit ihr? Vermutlich würde sie nun sauer sein, weil er so lange gebraucht hatte.
Vorschriftsmäßig klopfte er kurz an die Tür und schaute hinein. Aber es war Larissa, die gerade einer Bewohnerin eine Windel anlegte.
„Hast du Anna mit Frau Müller gesehen?“, fragte er durch den Türspalt. Larissa verneinte.
Kevin schaute in den umliegenden Zimmern in die Toiletten. Zwar brannte sonst nirgends in der Nähe das Anwesenheitslicht, doch wenn dieses Klo hier besetzt war, musste Anna ja ein anderes benutzt haben. Er konnte sie aber nirgends finden.
War sie schon mit ihr ins Kellergeschoss gelaufen? War es möglich, dass sie nicht wusste, dass die Leute vom ASB Frau Müller oben auf Station abholen würden?
Er ging zum Fenster des Aufenthaltsraumes. Ein Krankenwagen mit ASB-Aufschrift fuhr gerade durch die Hofeinfahrt. Es konnte nur so sein: Die beiden waren schon unten! Er lief zum Treppenhaus. Im Personenaufzug, dessen Tür direkt daneben lag, rumpelte es. Ein Stockwerk höher fuhr jemand mit irgendeinem Wagen hinein. Kurzentschlossen drückte er auf den Knopf neben dem Fahrstuhl.
Bevor der Aufzug da wäre, könnte er noch schnell auf Station A in zwei drei Zimmer schauen. Er hörte, wie sich oben der Aufzug in Bewegung setzte.
Er war gerade zurück, als die Fahrstuhltür aufging. Im Aufzug stand Frau Kramer mit ihrem Gehwagen.
„Hallo, Herr Linde. Wollen Sie auch nach
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