Graue Schatten
Mitarbeiter mit der weißen Arbeitskleidung ihre Beine ausstreckten, saß Erich. So nannte ihn das Personal, wenn er nicht dabei war.
Sein Äußeres, vor allem der kahle Kopf mit den weißen Haarbüscheln an den Schläfen und die Brille, erinnerten viele an den gleichnamigen, früheren DDR-Staatschef. Er hatte die fünfzig überschritten, war alleinstehend und ein etwas sonderbarer Kauz. Weil er wenig kontaktfreudig war, dafür aber immer übertrieben freundlich grinste, meinten manche, bei ihm wäre eine Schraube locker. Ungerechterweise, fand unter anderem Kevin, weil man sich durchaus gut mit ihm unterhalten konnte, wenn man erst mal sein Vertrauen gewonnen hatte. Der Mann war außerdem sehr zuverlässig und akkurat, bisweilen vielleicht ein wenig pedantisch. Auf alle Fälle machte er seinen Job gewissenhaft.
Erich nickte stumm und lächelte, als Anna und Kevin mit einem „Guten Morgen“ den Raum betraten.
Anna, der Kevin die Tür aufgehalten hatte, ging zwei Schritte hinein, blieb plötzlich stehen und wühlte in ihrem Stoffbeutel. Kevin schaute sie einen Moment lang fragend an und hörte sie etwas wie „der Arsch schon wieder!“ murmeln. Er wusste nicht, wen sie meinte und hatte keine Lust, sich hier an der Tür mit ihren Sorgen zu beschäftigen. Er ging an ihr vorbei auf den Tisch am Fenster zu.
„Ach, guten Morgen, der Herr Heimleiter, nebst Sekretärin!“, grüßte Locke und blies einen Rauchschwaden in Richtung Zimmerdecke.
„Grüße Sie, Herr Vorstandsvorsitzender“, antworte Kevin und deutete eine Verbeugung an.
„Morgen“, sagte Anna kühl und packte ihr Obst aus.
„Und, heute Morgen gut rausgekommen?“, fragte Locke Kevin zugewandt, welcher gleich die Kaffeekanne ergriff.
„He, Alter, nicht noch mal so eine Aktion vor der Frühschicht!“, antwortete der, schenkte sich ein und deutete Anna an, dass er ihr auch einschenken wollte. Sie schüttelte den Kopf.
„Ach, mach kein Theater, alter Zecher, trink deinen Negerschweiß und sei frohen Mutes“, flachste Locke.
Den ersten Rat befolgte Kevin unverzüglich. Er nahm einen Schluck. Dann sagte er zu Locke: „Wenn ich so rüstige Leute auf der Station hätte wie du, könnte ich auch jede Nacht durchmachen.“
Er erntete ein langgezogenes „Haha!“ von Locke, so als fühlte der sich ungerecht behandelt.
„Nicht Haha! Du solltest öfters mal bei uns aushelfen, damit du schaffen lernst.“
„Bloß nicht!“, schaltete sich Anna ein.
Locke sagte nichts.
Kevin registrierte, wie sein Freund Anna abschätzend ansah und fragte sie: „Wieso nicht?“
„Weil das ne Zumutung wäre!“, antwortete sie.
„Warum?“, hakte Kevin nach.
Locke schwieg.
„Weil ich dann nicht da bin“, lautete Annas etwas unpassende, und gerade deshalb für sie typische Antwort.
Kevin bemerkte eine Spannung zwischen den zweien, die nun beide gar nichts mehr sagten. Was hatten sie? Es war nicht Kevins Art, einfach zu fragen, aber er spürte, dass Anna bei dem latenten Streit in der Defensive war, obwohl sie es gewesen war, die Locke attackiert hatte. Er beschloss, sie zu unterstützen. „Na ja, vielleicht hast du recht. Der wäscht sich ja nicht mal selber die Haare, wie soll man da erwarten, dass er andere kompetent pflegt!“, stichelte er, um seinen Kumpel eventuell aus der Reserve zu locken.
Anna lachte. Locke lächelte schräg.
Wieso verteidigte er sich heute nicht und haute wie sonst immer ein paar Sprüche raus? Kevin bohrte nach. Bewusst bezeichnete er Lockes Haarpracht als Rastazöpfe und behauptete, dass diese eigentlich dem Dienst in ihrem Haus nicht angemessen seien. Anna hieb sofort in die Kerbe. Sie äußerte, dass jemand der sich nicht die Haare wasche, eigentlich nicht in der Pflege arbeiten dürfe. Im Gegensatz zu Kevin schien sie es allerdings ernst zu meinen. Seltsamerweise ließ Locke sich immer noch nicht provozieren. Er erklärte, auch an Kevin, der das schon lange wusste, gerichtet, dass er, erstens, keine Rastazöpfe, sondern Dreadlocks habe, und die seien, zweitens, nicht nach der berüchtigten Wachsmethode gemacht, bei der die Haare monatelang nicht gewaschen werden dürften, sondern innerhalb von ein paar Stunden eingedreht worden und sofort fertig gewesen. Waschen würde er sie zweimal die Woche, ganz normal. „Oder riechen meine Haare vielleicht schlecht?“, beendete er seinen Vortrag.
„Da oben riechst du immer gut, egal, ob du dich wäscht oder nicht“, spielte Kevin auf den typischen Geruch der Pflegestationen an,
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