Graue Schatten
Vorwarnung sauste ihre Hand durch die Luft und traf Kevin an der rechten Schläfe, gleichzeitig schrie sie: „Neinzig!“.
Gerade in diesem Moment hatte er nicht aufgepasst. Er spürte das Blut in seinen Kopf schießen. Seine Schläfe pochte. Ruhig bleiben, sagte er sich. Die arme Frau ist dement, weiß nicht, was hier vor sich geht, und hat deshalb Angst.
Okay, aber wenigstens muss sie noch angezogen werden.
Mit ruckartigen, unterschwellig aggressiven Handgriffen bekleidete er sie nun fast wortlos; immer ihre Hand im Blick und bereit zum Rückzug. Nur ab und zu war ein kurzes Kommando, wie „Festhalten!“, zu hören. Er war nicht wirklich wütend, aber die Ohrfeige hatte ihm einen Adrenalinschub verpasst. Sein Feingefühl war abgeschaltet. Er konzentrierte sich nur noch auf zwei Dinge: Fertigwerden und Vorsicht vor Angriffen.
Obwohl sie ihre Attacke wahrscheinlich schon wieder vergessen hatte, schien die Frau die subtile Aggression in den Bewegungen des körperlich überlegenen Pflegers zu spüren. Sie ließ von nun an alles mit sich geschehen. Wenige Minuten später stand sie gekämmt und nach Deo duftend in Kleid und Strickjacke in der Nasszelle.
„Stehen bleiben!“ Kevin flitzte auf den Gang hinaus, schaute erst nach rechts, dann nach links. Vor Zimmer 207 sah er einen Rollstuhl, der anscheinend gerade nicht gebraucht wurde. Den holte er und bugsierte ihn ins enge Bad. Begleitet von der knappen Bitte, Platz zu nehmen, beförderte er Frieda Müller in den Rollstuhl.
Draußen auf dem Flur lachte Larissa den beiden entgegen und begrüßte Frau Müller herzlich.
„Bist du klargekommen?“, fragte sie ihn.
„Hervorragend.“
Sie sollte von einer Frau gewaschen werden, wollte er fast sagen. Aber wie würde das aussehen, wenn sie irgendwann von einer anderen männlichen Pflegeperson gewaschen wurde, die dann keine Probleme mit ihr hätte? Bei nur drei männlichen Bewohnern auf der Station war es halt unvermeidlich, dass auch Frauen von Männern gepflegt wurden.
„Frau Schmidt hatte geklingelt“, teilte Larissa ihm mit. „Ich hab sie schnell fertig gemacht, ist ja nicht viel bei ihr.“
„Danke dir, bist ein Schatz.“
„Was meinst du, hat sie einen Oberschenkelhalsbruch?“ Larissa deutete auf Frieda Müller.
„Glaube ich nicht“, antwortete Kevin prompt. Er hatte sich während der letzten Minuten schon seine Meinung gebildet und freute sich jetzt, sie jemandem erörtern zu dürfen.
„Wenn, dann wäre es ein stabiler Bruch, ein sogenannter Adduktionsbruch vom Typ Pauwels eins, wenn dir das was sagt.“ Vor den Schwestern ließ sich immer so schön mit seinem Wissen prahlen.
„Wieso bist du dir da so sicher?“
„Weil sie bei jeder anderen Schenkelhalsfraktur überhaupt nicht laufen könnte!“
„Bist du mit ihr gelaufen?“
„So ist es. Vom Bett ins Bad – das war für sie eine Weltreise. Aber Schmerzen hat sie sicher keine gehabt, weder beim Aufstehen, noch beim Laufen.“
„Das wäre ja super. Ihre Tochter spinnt sowieso schon.“
Nun schaute Kevin fragend Larissa an. Dann fiel ihm ein, dass er noch einiges zu tun hatte. „Erzählst du mir nachher. Jedenfalls denke ich, dass sich Hansen irrt. Die Frau hat keinen Schenkelhalsbruch.“ Er schob den Rollstuhl mit der jetzt wieder völlig apathischen, neuen Heimbewohnerin weiter.
„Bis dann!“ Larissa verschwand lächelnd in einem Zimmer.
Er raste mit Frau Müller zum Aufenthaltsraum und steuerte den nächstbesten freien Platz an. Einige Bewohner saßen schon an den Tischen und warteten vor einem Becher Wasser oder Saft stumm auf das Frühstück.
Kevin schmetterte ein freundliches „Guten Morgen“ in den Raum. Eine Frau am Fenster winkte ihm lächelnd zu, machte „Ah“ und verstummte wieder. Die anderen schauten ihn nur verständnislos an oder starrten weiter lethargisch vor sich hin. Alle, die in diesem Aufenthaltsraum ihre Mahlzeiten einnahmen, waren hochgradig desorientiert. Entweder sie wussten lediglich nicht, wo oder wer sie waren, ob sie Rente bezogen oder noch zur Schule gingen, ob die weiß gekleideten Personen Pflegekräfte, Ärzte oder ihre Kinder waren, ob die Flüssigkeit in ihrem Schnabelbecher Tee oder die Soße für den Braten war, oder aber sie wussten nichts von all dem.
Als Kevin Frieda Müller vom Rollstuhl auf einen der Stühle an einem Tisch umgesetzt hatte, rechnete er: Frau Schmidt hatte Larissa ihm abgenommen, also waren es noch drei Ganzkörperwäschen und einige Extras vor dem Frühstück. Was
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