Graue Schatten
nahm er die ersten acht Stufen der Treppe mit einem Sprung. Ihm schoss durch den Kopf, dass es ihm schon am Morgen so vorgekommen war, als ob die alte Frau nur deshalb so langsam lief, weil sie Angst vor den fremden Menschen und der fremden Umgebung hatte. Wenn sie nun allein weggelaufen wäre, würde sich seine Vermutung bestätigen. Und dann hätte sie sehr wahrscheinlich auch keinen Oberschenkelhalsbruch.
Im Keller sah er Anna ganz am Ende des Nordflügels. Auch sie bemerkte ihn und machte mit den Armen eine hilflose Geste. Kevin deutete ihr mit dem Finger an, dass sie draußen, im Hof, weitersuchen solle.
Er selbst lief noch einmal den rechtwinklig verlaufenden Westflügel in Richtung des dritten Ausganges, den es im Untergeschoss gab.
Wenn Frau Müller in dem Moment aufgestanden sein sollte, als er vorhin pfeifend aus dem Lift gekommen und Anna mit ihrer Cola im Treppenhaus verschwunden war, und wenn sie hier entlang gegangen war, dann hätte sie Frau Kramer begegnen müssen. Die sollte er also fragen.
Aber wir werden sie eh gleich finden. Das hoffte er immer noch, während er im Vorbeilaufen an jeder Tür klinkte. Er schaute noch einmal in die Toilette, ging hinein und sah dieses mal hinter die Ecken der Zwischenwände aus Sperrholz. Leer!
Alle anderen Türen im Keller waren verschlossen.
Er hatte den Südausgang erreicht, durch den man zur Hofeinfahrt gelangte. Rechter Hand war der überdachte Platz für die Müll- und Recyclingbehälter. Die großen Müllcontainer waren fast leer. Gestern war die Entsorgungsfirma da gewesen. Trotzdem roch es aus den wenigen blauen Müllsäcken schon wieder unangenehm, selbst jetzt bei Temperaturen um null Grad.
Von Frau Müller keine Spur.
Anna lief ihm verzweifelt umherschauend quer über den Hof entgegen. „Das gibt's doch nicht!“, wollte sie sich noch immer einreden.
„Okay, wenn sie aus dem Haus raus gelaufen ist, kann sie überall sein. Zu zweit hat das überhaupt keinen Sinn. Ich gehe oben Bescheid sagen“, entschied Kevin.
„Aber die kann doch gar nicht richtig laufen!“, jammerte Anna schon wieder.
„Anscheinend doch. Aber mach dir keine Sorgen, ich hole Verstärkung. Wir finden sie schon“, versuchte Kevin ihr Mut zu machen, als er sah, wie unglücklich sie aussah. Sie schien den Tränen nah.
„Gehst du mal außen ums Haus rum solange?“, schlug er vor und rannte zum mittleren Hofeingang, vor dem noch der ASB-Krankentransporter stand.
Die Sanis warteten mit ihrer Trage im Keller.
„Tut mir leid, wir müssen Frau Müller erst suchen. Den Termin können wir vergessen“, teilte er ihnen mit.
„Aha“, antwortete der eine und wirkte etwas ratlos.
„Wea bschdädischt uns die Faad?“
Der Zweite schaltete wohl schneller.
„Gib her den Wisch“, sagte Kevin.
Der Blonde griff in die Innentasche seiner gelb-roten Jacke, holte den Transportschein und einen Stift hervor und legte ihn auf die Trage.
Kevin quittierte hastig und sagte: „Noch mal, Sorry.“
„Scho reschd ...“
Kevin ging zum Treppenhaus. An der Ecke fiel ihm noch ein: „Die Frau sollte eigentlich wegen Verdacht auf Schenkelhalsbruch geröntgt werden, aber so wie es jetzt aussieht, ist das eh überflüssig.“
„Na donn, viel Afolg beim Suchä!“
Kevin raste die Treppe hoch. Renate, die gerade im Gang der Station unterwegs war, sah Kevin gleich an, dass etwas los war.
„Was ist passiert?“, fragte sie, als der atemlose Pfleger erst mal Luft holte.
„Frau Müller ist weg. Anna war mit ihr runtergegangen. Hat sie wohl einen Moment allein im Rollstuhl sitzen gelassen; den Rest erzähle ich dir später. Jedenfalls ist sie weg.“
„Wie weg?“
„Wie vom Erdboden verschluckt. Im Keller und im Hof haben wir schon gesucht. Anna sucht gerade im Park.“
„Aber was hat denn Anna mit der Müller zu schaffen?“, fing Renate an, machte aber gleich eine wegwerfende Handbewegung und beschloss: „Sag dem Stur Bescheid. Der soll mitsuchen. Wir können hier nicht alle weg. Ich schicke noch Larissa hinterher.“
Wie immer in solchen Situationen reagierte sie schnell und angemessen. Für eine Standpauke war jetzt keine Zeit.
„Okay. Ich gehe dann aber auch mit raus?“ Kevin rannte zum Aufzug, ohne eine Antwort abzuwarten. Von Station A hörte er Lockes Stimme. Er schaute um die Ecke, steckte zwei Finger zwischen seine Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus.
Locke wandte sich um. „Was geht, Alter?“, fragte er von Weitem.
Kevin winkte ihn ungeduldig her. Schnell
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