Graue Schatten
Erde versteckt. Wie bei den Alten im Schattengrau , philosophierte er in Gedanken. Sie leben, wenn überhaupt, nur noch nach innen, in ihrer Erinnerung. Von außen sehen sie grau und trostlos aus wie dieser öde Wald. Mehr tot als lebendig.
Rechter Hand kam nun der einzige breitere Weg, der aber bekanntermaßen zwischen Gestrüpp an einer Futterkrippe endete.
Kevin blieb abrupt stehen und lauschte. Was war das eben gewesen? Jemand hatte etwas gerufen! Oder eher geschrien? Das hatte sich nicht gut angehört, irgendwie panisch! Eine weibliche Stimme. Sie hallte noch einen Moment lang nach. Er konnte nicht feststellen, wo genau sie hergekommen war. Von irgendwo aus dem Wald jedenfalls.
Jetzt herrschte wieder Stille.
In Kevins Halsschlagader klopfte es heftig, der Schreck war ihm in die Glieder gefahren. War das Anna gewesen? War sie diesen Weg hier hineingegangen? Oder die Müller? Oder beide? Er schaute wieder auf den Boden. Es waren undeutlich mehrere Fußspuren zu sehen. Aber er konnte nicht erkennen, von welcher Art Schuhen sie stammten.
„Anna?“, rief Kevin laut in den Wald in die Richtung, in der zweihundert Meter weiter unten die Futterkrippe stand. Wieder brach sich der Schall irgendwo an einer Felswand und kehrte als leises, verschwommenes Echo zurück.
Dann war es so still wie vorher. Keine Antwort. In der Ferne brauste ein Zug durchs Tal. Die dünne Winterluft trug das ratternde Geräusch ungewöhnlich weit und ließ es sonderbar nah erscheinen.
„Anna?“, rief er noch einmal und lauschte angestrengt. Nicht die leiseste Antwort. Nur in den Baumkronen rauschte es leicht. Er war sich ganz sicher, eine weibliche Stimme vernommen zu haben. Aber wenn es Anna gewesen sein sollte, dann hätte sie ihn hundertprozentig rufen hören, meinte er. Deshalb kam er zu dem Schluss, dass es entweder jemand anders gewesen sein musste oder dass der Ruf aus einer ganz anderen Richtung gekommen war, zum Beispiel vom Heim her.
Sollte er trotzdem diesen Pfad hineingehen und nachschauen? Er schwankte kurz, entschied dann aber schnell, dass das Zeitverschwendung wäre. Er beschloss, den breiteren Weg weiter, und dann, über das letzte Stück der asphaltierten Straße entlang, wieder zurück zum Heim zu gehen. Er konnte ja nicht ewig herumspazieren, das machte keinen Sinn. Dann schon besser oben helfen. Es war so schon genug Zeit verloren gegangen. Die Polizei sollte auch etwas tun für ihr Geld.
Nach zehn Minuten hatte er das Heim umrundet und ging durch den Vordereingang hinein auf seine Station. Seine Armbanduhr zeigte 10.16 Uhr. Seit Frau Müllers Verschwinden war fast eine Stunde vergangen! Sie konnte inzwischen sonst wo sein!
Im Aufenthaltsraum wirbelte Larissa mit Lappen und Eimer bewaffnet zwischen den Tischen hindurch auf jenen herum. Mit einer dritten Hand, so schien es Kevin, teilte sie den Diabetikern die Zwischenmahlzeit aus.
„Habt ihr sie?“, fragte sie aufgeregt, als sie Kevin sah.
„Nee, hast du nicht mit gesucht?“
„Doch, aber nur paar Minuten. Ich bin einmal ums Haus gelaufen. Als ich wieder vor dem Haupteingang war, hat Renate aus dem Fenster raus gerufen, ich solle wieder hochkommen. Stur habe schon die Polizei angerufen.“
„Hat ja auch so keinen Zweck.“
„Wer ist denn weg?“, schaltete sich Frau Schmidt ein, die an ihrem Stammplatz am Fenster saß.
„Die Neue, Frau Müller“, klärte Larissa sie kurz auf. Dann wollte sie von Kevin wissen, wie das überhaupt hatte passieren können. Er erzählte die ganze Geschichte auch ihr noch einmal.
„Hoffentlich finden sie sie bald. Die Kälte ist lebensgefährlich für die alte Frau“, meinte Larissa.
„Die werden einen Hubschrauber einsetzen, wie damals beim Sommerfest.“
„Anna muss sich jetzt auch erbärmlich fühlen.“ Larissa hielt einer Bewohnerin deren Trinkbecher vor die Nase. „Ein Monat bevor sie fertig ist, noch so was.“
„Andererseits ist das auch wieder typisch für sie. Wer würde auf die Idee kommen, die Frau alleine zu lassen?“
„Aber doch nur für einen Moment!“, verteidigte Larissa die schusslige Helferin energisch. „Sie hat ja gehört, wie du mit dem Lift runtergekommen bist. Obwohl sie noch so viel zu tun hatte, hat sie dir geholfen. Und außerdem ist Frau Müller vorher wirklich schlecht gelaufen!“
„Ist sie noch nicht oben?“, wollte Kevin wissen.
„Ich habe sie nicht gesehen. Ja, bitte trinken, Frau Bauer. Wahrscheinlich läuft sie noch draußen in der Kälte rum.“
„Locke hast du
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