Graue Schatten
erklärte er ihm dann die Situation und fragte ihn, ob er suchen helfen könnte.
„Klar, Alter. Ich muss nur kurz Sieglinde Bescheid sagen.“
„Danke dir. Ich gehe vor.“ Kevin war mit zwei großen Schritten schon wieder im Treppenhaus, auf dem Weg ins Erdgeschoss zum Büro des Pflegedienstleiters.
Er klopfte und öffnete die Tür, ohne Sturs „Ja?“ abzuwarten.
„Was gibt's? Sie sehn so gehetzt aus, Herr Linde.“
Kevin berichtete dem Pflegedienstleiter kurz und bündig, was passiert war.
„Also im Keller haben Sie schon gründlich gesucht?“, vergewisserte sich Michael Stur.
„Ich habe im Westflügel alle Türen und die Toilette gecheckt. Anna hat im Nordflügel nachgesehen.“
„Im Keller sind alle Türen verschlossen, auf Herrn Krause kann man sich verlassen. Dann ist Frau Müller sicher draußen“, schlussfolgerte der Pflegedienstleiter.
Kevin unterbreitete ihm, welche Möglichkeiten es seiner Meinung nach gab: Sie war Anna gefolgt und in den Westflügel gelaufen, dann hätte Frau Kramer sie sehen müssen. Die müsste man noch fragen, ob ihr jemand begegnet war. Da dort unten alle Türen verschlossen waren, konnte sie in dem Fall nur das Haus verlassen haben. Dass sie hinter Anna durchs Treppenhaus nach oben gelaufen und jetzt auf einem der drei Stockwerke war, hielt er für unwahrscheinlich. In diesem Fall müsste sie auch früher oder später jemand sehen.
Oder sie war in dem Moment, als er selber zur Hoftür hinaus gegangen war und die Sanis begrüßt hatte, quasi an ihm vorbei in den Nordflügel gelaufen.
Stur rieb sich nachdenklich sein Doppelkinn, dann entschied er: „Herr Linde, suchen Sie draußen, und fragen Sie vorher Frau Kramer. Ich gehe auf die anderen Stationen. Wenn sie dort ist, müsste sie jemand gesehen haben, wie Sie richtig sagten. Wenn ich Frau Müller nicht finde, rufe ich gleich die Polizei an. Wenn sie inzwischen draußen jemand findet, soll er mich bitte sofort auf meinem Handy anrufen. Ich denke, meine Nummer hat jeder. Frau Stiegler weiß Bescheid?“
„Ja, Renate hat mich zu Ihnen geschickt.“
„Ich schaue, dass ich von den anderen Stationen noch jemanden zur Unterstützung kriege.“
„Locke habe ich schon runter geschickt. Der ist mir über den Weg gelaufen.“
Als Kevin wieder durchs Treppenhaus ins Untergeschoss hechtete, dachte er: Gott sei Dank war Stur im Büro gewesen, wenn er ihn erst hätte anpiepsen müssen ... nicht auszudenken! Im weitläufigen Gelände um das Heim hatte es wenig Sinn, jemanden mit einer Handvoll Leute zu suchen. Er erinnerte sich an das vorletzte Sommerfest. Eine verwirrte Frau war weggelaufen. Die stundenlange Suche, an der sich auch ein Polizeihubschrauber beteiligt hatte, war ergebnislos geblieben. Erst am Abend hatte damals jemand im Heim angerufen. Die Frau war fünf Kilometer weit zu ihrer früheren Wohnung unten am anderen Ende des Ortes gelaufen. Weil sie nicht in die Wohnung hineingekommen war, hatte sie auf der Gartenbank ein Nickerchen gemacht, bis sie vom Nachbarn entdeckt wurde.
Kevin betrat wieder den Keller. Im Südflügel sah er Erich aus dem Heizungskeller kommen. Er lief dem Hausmeister entgegen.
„Hallo, Herr Krause. Haben sie Frau Müller gesehen? Das ist eine neue Bewohnerin. Klein, dünn, schwarzgraue Haare, um die achtzig.“
Er verneinte. Er sei die ganze Zeit im Heizungskeller gewesen.
„Ich habe doch an sämtlichen Türen geklinkt. Sie waren alle verschlossen“, wunderte sich Kevin.
„Das habe ich gehört. Ich habe mich eingeschlossen, wegen der Vorschrift. Es sind alle Türen verschlossen zu halten.“
Er begann Kevin, der einer der wenigen war, die seinen Geschichten gewöhnlich Aufmerksamkeit schenkten, zu erzählen, was mit der Heizung nicht in Ordnung sei. Kevin riss sich mit den Worten los, es tue ihm leid und er müsse weiter Frau Müller suchen.
Krause grinste schief.
Schon ein komischer Kauz, schließt sich wegen der Vorschrift ein, dachte Kevin. Er lief zum Nordflügel. Lieber noch mal genau nachschauen, bevor die Polizei und die halbe Belegschaft des Schattengrau den Park durchkämmt, sagte er sich.
Er eilte in die Waschküche. Die Hauswirtschaftlerin und Frau Kramer waren damit beschäftigt, Wäsche in Wagen einzusortieren.
„Ach, Herr Linde! Schon wieder zurück?“, rief Frau Kramer.
„Ich war noch gar nicht weg. Frau Müller ist verschwunden.“
„Die Neue?“, fragte die Hauswirtschaftlerin erschrocken.
„Richtig, die Neue. Hier war sie nicht, in der letzten
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