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Graue Schatten

Graue Schatten

Titel: Graue Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Nimtsch
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halben Stunde?“, fragte Kevin.
    „Hier war niemand.“
    „Danke, Tschüss!“, verabschiedete Kevin sich.
    Als er das Wäschelager verließ, hörte er die Hoftür zuschlagen. Da er keinen sah, also niemand den Keller betreten hatte, musste jemand hinausgegangen sein. Vielleicht Locke oder Stur oder irgendwer, der von einer anderen Station mit dem Lift heruntergefahren war, vermutete Kevin.
    Er ging nun den Nordflügel entlang und verließ das Haus auf dem gleichen Weg, den Anna vorhin gegangen war. Draußen sah er sich um, kein Mensch war zu sehen. Kein Wunder bei der Kälte, dachte er, und dass es wirklich nicht nett von der alten Frau war, ihn bei Minusgraden durch die Landschaft laufen zu lassen.
    Auf jeden Fall würde es zur Müller passen. Dass sie aus ihrem apathischen Zustand, in dem sie sich wohl oft befand, blitzschnell und unerwartet äußerst aktiv werden konnte, hatte er ja schon am Morgen schmerzhaft zu spüren bekommen. Sie musste wohl instinktiv die Freiheit gerochen haben.
    Wenn sie in den Wald gegangen ist, sich dort verlaufen hat und man sie heute nicht findet, ist sie morgen erfroren, mutmaßte Kevin. Wie ein Wellensittich, der aus dem Fenster in die Freiheit fliegt und dort zugrunde geht.
    Einen Moment lang fragte er sich, ob er Anna die Frau überhaupt hätte anvertrauen dürfen. Er verdrängte die Bedenken aber sofort wieder. Wenn sie das bisschen Verantwortung nicht übernehmen konnte, durfte sie nicht in der Altenpflege arbeiten, fertig aus.
    Er schaute auf die Uhr. Es war sieben vor zehn. Seit er auf der Station gewesen war, um Renate zu informieren, waren schon wieder dreizehn Minuten vergangen. Wenn sie noch Larissa herunter geschickt hatte, musste die Chefin nun oben alles alleine machen. Aber sie würde schon selber wissen, was richtig war.
    Kevin ging vom Ausgang den mit Steinplatten belegten, schmalen Weg über die Wiese, auf der Rückseite des Wohnheims entlang in Richtung Holzzaun und zog im Laufen den Reißverschluss seiner Jacke hoch. Es mussten drei, vier Grad minus sein. Er versuchte sich in die desorientierte alte Frau zu versetzen. Wenn sie vor uns – vor den Fremden – ausreißen wollte und hier hinausgelaufen ist, spekulierte er, ist sie vielleicht intuitiv direkt den kürzesten Weg in Richtung Wald gegangen.
    Das Holztürchen im Zaun stand wie immer offen. Hinter dem Zaun war der Weg nicht mehr mit Steinen ausgelegt. Noch immer sah Kevin keinen Menschen, weder Anna, noch Frau Müller, noch sonst wen.
    Er kam auf den breiteren, unbefestigten Weg, der einige Meter weiter rechts auf der Wendeplatte vor der Hofeinfahrt begann. Links führte er in den Wald, fiel allmählich leicht ab und verlief, tief im Wald versteckt, in weitem Bogen um das Heim herum. Wenn man diesem von Forstfahrzeugen zerfurchten Weg folgte, gelangte man etwas weiter unten im Tal auf die Asphaltstraße, die zum Sonnenweiß-Stift hoch oder zur fünf Autominuten entfernten Stadt hinunter führte.
    Nochmals versuchte er sich in die anscheinend verwirrte, menschenscheue Bewohnerin zu versetzen und entschied sich daraufhin, nach links durch den abweisend kalten Novemberwald zu gehen.
    Der Boden war gefroren. So blieben die Schuhe wenigstens einigermaßen vom Schlamm verschont. Er schaute nach Fußspuren, es waren unscharf welche zu erkennen. Es schienen heute schon eine oder mehrere Personen hier entlang gegangen zu sein.
    Konnte Frau Müller so weit gelaufen sein? Es war wirklich kurios. Auf Station hatte es tatsächlich so ausgesehen, als ob sie nicht mal allein aufstehen könnte. Das hatte wohl Anna auch dazu verleitet, Frau Müller alleine zu lassen. Aber möglich war alles. Und dass die Frau tatsächlich mehr Angst vor Menschen als vor dem Wald hatte, konnte Kevin ihr nicht verdenken.
    Links des Weges, den er nun hinunter lief, befand sich ein steiler Hang, hinter dem hoch oben das Plateau mit dem Pflegeheim lag. Rechts führten mehrere Abzweigungen noch weiter in den Wald. Zwei davon hatte Kevin gerade passiert.
    Einmal im Sommer war er mit Betti so einen Pfad entlang in eine der wildromantischen Schluchten auf der rechten Seite des Weges hinunter gekraxelt. Sie hatten gemeint, so zu Fuß zur Stadt hinunter zu gelangen, und waren in einem Mistel-Dschungel gelandet.
    Kevin folgte dem Hauptweg. Dabei ließ er ständig seinen Blick über das Dickicht am Boden und durch die Bäume streifen. Nach ein paar Metern fiel ihm auf, wie still es hier war. Aber auch leblos. Als hätte sich das Leben im Inneren der

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