Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
dem Waldboden gequollen waren.
In den Schatten der Bäume standen zwei Wagen, die Daryll nur zu gut kannte. Direkt vor der Eingangstür zum Laden stand der alte Ford von Mr. Murphy. So weit sich Daryll zurückerinnern konnte, stand das Auto immer an derselben Stelle, direkt neben den ausgetretenen Stufen, die zu der hölzernen Veranda vor dem Geschäft führten. Auf dem Vorbau selbst standen immer einige Stühle, die nicht zueinander passten. Zerschlissene Rattan-Stühle, Plastikschemel und ein alter Schaukelstuhl, der am Ende der Veranda stand. Daryll hatte sich an manchen Sommertagen, wenn ihm der alte Mann eine Limonade für seine Mühen spendiert hatte, gerne auf einen der Korbstühle gesetzt und mit geschlossenen Augen das Glitzern der Sonne durch das Blätterdach genossen.
Jetzt lagen die Stühle zerborsten und auseinandergerissen auf dem Parkplatz verteilt. Einer der Plastikschemel lag mit dem Füßen nach oben auf der Motorhaube von Murphys Wagen. Irgendjemand – oder Etwas – hatte versucht, sich gewaltsam Zutritt zur Hütte zu verschaffen, denn die Fliegengittertür war aus den Angeln gerissen und das Geländer der Veranda zerfetzt worden.
An der Ecke des Hauses, die zur Rückseite führte, konnte Daryll den verrosteten Pick-up des alten Mr. Jennings erkennen. Er kauerte sich in die Schatten der Hütte wie ein geprügelter Hund.
Daryll ließ seinen Blick über die dunkle Fassade wandern, hinauf zu den Fenstern, die nur als schwarze Flecken zu erkennen waren. Hinter einem der Holzläden glaubte er schwachen Lichtschimmer zu sehen. Doch nach der erschöpfenden Fahrt in die Hügel, konnte er auch einer Einbildung erlegen sein.
Nichts rührte sich auf dem kleinen Parkplatz. Einige graue Blätter wirbelten im Wind zwischen den Überresten der Stühle umher. Die beiden Autos erweckten den Anschein von ausgeschlachteten Wracks auf einem Schrottplatz.
Eine Stille, die noch tiefer als das grausige Schweigen der Hügel zu sein schien, brandete Daryll wie eine eisige Flut entgegen. Sein Blick wanderte immer wieder zu dem alten Pick-up. Als er den Wagen das letzte Mal sah, hatte er dem alten Harvey Jennings gerade seine Zeitung gebracht und einen Dollar dafür erhalten. So wie immer, wenn er die Zeitung an eisigen Wintertagen sogar bis zur Haustür brachte. Damals, vor etwa zwei Wochen, stand der Wagen unter einem selbstgebauten Carport aus rohfaserigen Holzbalken. Seitdem waren ihm weder der alte Mann noch das Auto unter die Augen gekommen. Doch wenn der Pick-up vor dem Haus von Mr. Murphy stand, konnte das bedeuten, dass sich beide Männer in der Hütte verbarrikadierten. So wie er und Mary Jane sich im Klassenzimmer der Schule verschanzt hatten.
Die Stille und die Dunkelheit unter den hohen Birken erzählten ihm eine völlig andere Geschichte, die Daryll jedoch nicht erzählt haben wollte. Er lehnte sein Fahrrad gegen einen verwitterten Holzpfosten, der früher einmal einen Zaun gehalten haben musste, und schlich langsam die schmale Abfahrt zu Murphys Laden hinunter. Er trug seine Magnum in der Hand, ohne dass er sie bewusst aus seinem Hosenbund gezogen hätte. Die Waffe schien eine Tonne zu wiegen. Sie mit sich zu führen, war eine Sache. Sie jedoch einsetzen zu müssen, ein Aspekt, über den er sich bislang noch keine Gedanken gemacht hatte. Sein Finger lag am Abzug, das kalte Metall kitzelte seine Haut. Plötzlich überkam ihn die schreiende Gewissheit, dass er es nicht schaffen würde, den Finger zu krümmen, ganz gleich, welche Abscheulichkeit sich vor dem Lauf der Waffe befand.
Als das Haus des alten Murphy wie ein niedergestreckter Riese vor ihm in den Schatten aufragte, blieb Daryll stehen. Sein Blick wanderte hektisch zu den beiden Fahrzeugen, dann zur dunklen Front des Waldes, die sich um die Rückseite der Hütte schmiegte. Dann wieder zur farblosen Fassade, die Daryll so bedrohlich und unüberwindbar erschien, als stünde er in den Schluchten New Yorks vor einem Wolkenkratzer.
Der Lichtschimmer, den er von der Straße aus zu sehen geglaubt hatte, war verschwunden. Die geschlossenen Holzläden wirkten wie düstere Pforten. Die Welt um Daryll schrumpfte und schien ihn ersticken zu wollen. Das Atmen fiel ihm so schwer, als drückte ihm jemand die Kehle zu.
Er dachte plötzlich an die Videospiele, die er früher, in der alten Welt, oft heimlich bei seinem Kumpel Greg gespielt und die er nie richtig verstanden hatte. Er war planlos mit seinem Waffenarsenal durch unwirkliche Städte gerannt, ohne zu wissen,
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