Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
was er tun sollte. Er hatte dies Greg gegenüber natürlich nie zugegeben, sondern wild auf alles sich Bewegende geschossen. Doch genauso, wie damals vor dem Bildschirm, fühlte er sich jetzt.
Er starrte auf den alten Ford von Murphy und die zerfetzten Überreste der Stühle und der Veranda, die auf dem Boden um den Wagen verteilt lagen. Der umgedrehte Schemel auf der Motorhaube erinnerte ihn an die übertriebene Komik von Cartoons. Das Gefühl, in eine Sackgasse gelaufen zu sein, ergriff ihn mit stählernen Fäusten und lähmte seinen Verstand.
Er konnte nicht mehr zurück, denn dann würde ihm irgendetwas den Weg zur Straße hinauf folgen. In den Gemischtwarenladen konnte er auch nicht. Was versucht hatte, sich Zutritt zu verschaffen, konnte sich immer noch in der Dunkelheit darin aufhalten.
Irgendwo knackte ein Zweig. Schritte schlurften schwerfällig über den steinigen Boden. Daryll wurde an Sandpapier erinnert, das Steine schmirgelt. Er wagte es nicht, in die Richtung zu blicken, aus der sich die Geräusche näherten.
Die Welt um ihn herum kippte zur Seite. Daryll hatte das Gefühl, am Rand einer Schlucht zu stehen. Unvermittelt machte er einen Schritt zurück. Seine Beine fühlten sich steif an.
Die Schritte kamen näher. Sandpapier.
Atmen.
Daryll streckte seine Arme steif nach vorn, der Finger verschmolz mit der Kälte des Abzugs der Magnum.
Er wirbelte in die Richtung, in der er einen Schatten zu sehen glaubte …
… und starrte in den schwarzen Abgrund eines Gewehrlaufs.
IV
»Nimm die Waffe runter, Jungchen.«
Die Stimme klang blechern, als käme sie aus einem uralten Radio, dessen Sender nicht richtig eingestellt war. Die Worte wurden mit einer unheimlichen Ruhe ausgesprochen.
Daryll hatte noch nie in seinem Leben in die finstere Mündung eines Gewehres geblickt. In der Welt, in der er aufgewachsen war, gab es keine Waffen, die auf ihn gerichtet wurden. Seine Beine begannen zu zittern und fühlten sich an, als würde er auf einem Boden aus Gummi stehen. Die Welt drängte sich noch dichter um ihn. Sie umklammerte ihn mit kalten, harten Händen.
»Hörst du schlecht?«
Daryll kannte den schleppenden Klang der Stimme, doch er konnte kein Gesicht zuordnen. Seine Gedanken rasten zu schnell für seinen Verstand. Er schaffte es nicht, auch nur einen kleinen Fetzen zu greifen und festzuhalten. In der nächsten Sekunde rollte das metallische Klicken des Spannhahns wie Donner durch die Stille der Welt. Daryll ließ die Waffe fallen und fühlte sich plötzlich so nackt und hilflos wie am Tage seiner Geburt.
»Bist du gebissen worden?«
Daryll starrte auf seine jetzt leeren Hände. Die Frage hatte er nicht verstanden. Die Worte schienen von zu weit her zu kommen.
»Bist du gebissen worden, Jungchen?«
Der Lauf des Gewehres unterstrich die Worte, indem er näher an Darylls Gesicht heranrückte, seine Wange berührte und den Kopf erst zur linken, dann zur rechten Seite drückte. Die Kälte des Metalls ließ Daryll schwindeln. Jeden Augenblick mussten seine Beine ihren Dienst versagen. Er würde schlaff und hilflos wie eine Puppe auf die Erde fallen, direkt neben seine jetzt nutzlose Magnum, und im nächsten Moment würde ihm jemand den Kopf von den Schultern schießen.
»Du scheinst in Ordnung zu sein«, flüsterte die blecherne Stimme mit einem Anflug von Erleichterung. Das Loch der Mündung verschwand und Daryll starrte mit hämmerndem Herzen und schreckensweiten Augen auf den Schemen einer Gestalt, die unmittelbar vor ihm stand. Es dauerte einige Sekunden, bis sich sein Blick klärte und die eisernen Klauen seiner geschrumpften Welt von ihm abließen.
Im nächsten Augenblick hätte Daryll am liebsten laut geschrien. Ob vor Angst oder Euphorie, wusste er nicht. Vielleicht lag in dieser Welt beides gar nicht mehr so weit voneinander entfernt. Vor ihm stand die gebeugte, schmächtige Gestalt von Mr. Murphy.
»Du kannst deine Hände jetzt herunternehmen«, flüsterte der Alte und legte sich das Gewehr über die Schulter.
Daryll hatte nicht einmal bemerkt, dass er seine Arme wie ein gestellter Bankräuber hoch über den Kopf erhoben hielt. Er nahm sie herunter, ohne seinen Blick von Murphy abzuwenden. Der alte Mann stand vor ihm, die freie Hand in die Hüfte gestemmt, und betrachtete ihn mit einem schiefen Grinsen. Er erinnerte Daryll an die betrunkenen Westernhelden, die abends oft auf dem Classic-Kanal gelaufen waren.
Dann drehte sich Murphy um, spuckte auf den Boden und ließ seinen Blick zur Straße hinaufwandern.
Weitere Kostenlose Bücher