Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
niemals auf diesem Fest amüsieren würden. In der hinteren Ecke stand ein Kettenkarussell, dessen Sitze traurig an den silbernen Ketten hingen und leicht im Wind schaukelten. Braune Blätter wirbelten über Tische und Holzbänke, als würde das Fest ihnen zu Ehren stattfinden. Wulf dachte an Deep River. An die Einsamkeit, die er an einem Ort verspürt hatte, den er seit Jahren als seine Heimat bezeichnete. Kagan´s Creek war Deep River. Kagan´s Creek war Devon. Es machte keinen Unterschied mehr. Die Städte hatten ihre Namen verloren und lagen sterbend inmitten einer stillen, leergefegten Wüste. Steinigen Inseln gleich, ragten sie aus diesem Ozean des Todes heraus. Irgendwann würde niemand mehr da sein, der sich an ihre Namen erinnerte.
Wulf machte sich Sorgen um Daryll. Wie viel konnte ein Junge in seinem Alter ertragen? Wann würde die dünne Schale seiner Sicherheit brechen? Daryll wirkte alt. Sein Gesicht glich einer starren Maske, in düsteren Farben gezeichnet, wie die eines traurigen Clowns. Die Augen zwei dunkle, erlöschende Kohlestücke, der Mund eine schmale, zusammengepresste Linie. In der Hand hielt er die Magnum, als würden er und die Waffe unzertrennlich zusammengehören. Mit unberührtem Blick betrachtete er die verwaisten Häuser, die langsam an ihnen in einer traurigen Parade vorüberzogen. An was erinnerte sich der Junge, fragte sich Wulf voller Verbitterung. Wo sah er sich mit seinem Vater in einem Hauseingang verschwinden? Wo hörte er sein Lachen?
Plötzlich richtete sich Daryll im Sitz auf und deutete mit ausgestrecktem Arm nach vorn.
»Hinter der Biegung. Das letzte Haus.«
Als sie um die Kurve fuhren, erkannte Wulf die ausgeschaltete Neonreklame eines kleinen Drugstores. Das Haus stand etwas abseits, durch eine schmale Straße von einer Zeile mehrstöckiger Bauten getrennt. Ein Lieferwagen stand vor dem Haus, die Fahrertür stand offen.
Wulf blieb stehen und beobachtete mehrere Minuten lang das Haus. Sein Blick wechselte zwischen dem Wagen und den schwarzen Fenstern des Gebäudes hin und her. Nirgends war eine Bewegung zu erkennen und doch spürte er wieder dieses kalte Kribbeln auf der Haut, als ob sie beobachtet wurden.
»Kannst du Auto fahren?«
Daryll sah ihn mit großen Augen an. Für eine Sekunde verwandelte er sich wieder in einen abenteuerlustigen, dreizehnjährigen Jungen. Dann nickte er ernst und wurde wieder alt. »Bens Bruder hat es mir einmal …« Er verstummte.
Wulf legte den Gang ein und fuhr langsam auf das Haus zu. Während er sprach, ließ er die Umgebung nicht aus den Augen. »Du wartest im Wagen, ich gehe rein. Den Motor lassen wir laufen, ganz gleich, wie viel Lärm das macht.«
Er parkte den Pick-up auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor dem Parkplatz einer Turnhalle. Einige Autos standen dort. Bei mehreren waren die Scheiben eingeschlagen. Jemand musste hier gewesen sein. Oder war es immer noch …
Wulf griff nach seiner Pumpgun. »Wenn etwas schief läuft, drückst du aufs Gas und verschwindest. Hast du verstanden?«
Darylls Augen brannten vor Furcht. »Aber …«
»Kein aber«, schnitt ihm Wulf sanft das Wort ab. »Du machst einen Bogen um die Stadt und fährst zu Murphy und Demi zurück. Auf keinen Fall …« Er sah Daryll nachdrücklich in die Augen. Der Wunsch, den Jungen in den Arm zu nehmen und fest gegen seine Brust zu drücken, war übermächtig. »Ich wiederhole: Auf keinen Fall steigst du aus und kommst zum Laden.«
Darylls Lippen bewegten sich stumm. Seine Augen suchten hektisch die Umgebung ab, auf der Suche nach den richtigen Worten. Wulf wusste, was er da von dem Jungen verlangte. Er sagte ihm mit schlichten Worten nichts anderes, als dass Daryll ihn im Falle von Gefahr seinem Schicksal überlassen und zu dem alten Mann und dem Mädchen zurückkehren sollte. Die Folgen einer derartigen Instruktion konnten verheerende Folgen für die Entwicklung des Jungen haben. Schuldgefühle, Zweifel und Selbsthass waren nur einige der Emotionen, denen er sich in späteren Jahren – so es diese denn geben sollte – ausgesetzt sah. Doch alles andere konnte seinen Tod in dieser Stadt bedeuten. Vielleicht das kleinere Übel.
»Du schaffst das«, war alles, was Wulf einfiel. Es waren andere Zeiten, begründete er sein Handeln und versuchte damit sein eigenes, nagendes Gewissen zu beruhigen. ›Nur die Stärksten werden überleben‹ war eine weitere inhaltslose Floskel, die ihm kurz durch den Sinn ging. Doch er hielt sie nicht fest. Er nickte Daryll kurz zu,
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