Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
dass es so ähnlich in der Mülltonne eines Schlachthauses stinken musste.
»Warum musstest du nach Devon fahren? Warum konnten wir nicht einfach warten?« Murphy schüttelte den Kopf, seine Hände umfassten das Gewehr so fest, dass es schmerzte. »Warum …«
Er wusste keine Worte mehr. Sein Kopf war leer, seine Gedanken standen still. So wie die Zeit, in der er vor dem Haus seines alten Freundes stand und sich von ihm verabschiedete. Irgendetwas zerbrach in ihm, saugte die letzten Gefühle und Bilder aus seinen Gedanken und ließ einen schweigenden, sterbenden Verstand zurück.
»Ich werde nicht zulassen, dass du einer von ihnen wirst«, flüsterte er. Tränen rannen ihm über die Wangen. Die Gestalt seines Kumpels verschwamm. Mit der Schulter wischte er sich die Tränen und den Schleim, der aus der Nase tropfte, weg.
Als sich ihre Blicke wieder trafen, hatte sich der Ausdruck in den milchigen Augen der Gestalt verändert. Die Traurigkeit war verschwunden und einem gefährlichen Glitzern gewichen. Plötzlich hatte das Wesen nicht mehr das Geringste mit Harv gemein. Murphy starrte ungläubig auf den alten Freund.
Die Gestalt begann sich zu bewegen. Träge trat sie von einem Bein auf das andere. Die dürren Arme hoben sich. Graue Finger, die Klauen glichen, krümmten sich, als versuchten sie nach etwas zu greifen. Schwarzer Schleim trat aus der Wunde am Hals und tropfte in langen Fäden auf das feuchte Holz der Veranda.
»Wir werden wohl nie wieder mit unseren Mädchen nach Devon fahren«, flüsterte Murphy und hob das Gewehr. »Wir werden keine albernen Scherze mehr machen, alter Mann. Und auf keinem Karussell mehr fahren, bis uns schlecht wird.«
Schon einmal hatte er in den letzten Tagen auf seinen Kumpel gezielt; auf dem Parkplatz vor seinem Laden. Damals war er von Angst besessen gewesen und hatte in dem Wahn gelebt, der einzige Mensch auf der Welt zu sein. Er war sich sicher gewesen, dass sich eine dieser Kreaturen Harveys ausgeweideten Leib wie eine zweite Haut übergezogen hatte. Diesmal wusste er, dass es wirklich Harv war, der nur wenige Schritte vor ihm stand. Und er wusste auch, dass sein alter Kumpel tot war.
»Du wirst wohl auch nicht mehr in meinen Laden zum Einkaufen kommen.« Der Stahl der Waffe war kalt und lag tonnenschwer in seiner Hand. »Den Laden gibt es nicht mehr. Es gibt keine Audrey mehr, und keine Sarah.«
Murphy hob das Gewehr und zielte. Seine Beine drohten in der Erde zu versinken. Ein kalter Wind kam auf und wirbelte den Gestank durcheinander. Er trocknete Murphys Tränen.
»Keine Umarmung mehr, Harv. Keine Worte.«
Sein Finger krümmte sich …
»Keine Hoffnung.«
… verschmolz mit dem Abzug.
Harveys Kopf explodierte in einem Nebel aus Blut, Hirn und Knochensplittern. Dazwischen glaubte Murphy immer noch die Augen seines Freundes zu erkennen. Bleiche Augen in einem grauen, ausgetrockneten See.
»Leb wohl, du verdammter, alter Narr.«
Das Echo des Schusses rollte durch die Stille der Hügel. Der Wind zerrte an seinen Haaren und trieb Murphy vom Haus fort. Weg von dem Ort, an dem er so viele glückliche Stunden verbracht hatte. Die jugendlichen Liebhaber und ihre albernen Mädchen.
Murphy drehte sich um und ging langsam den vertrauten Sandweg zur Straße hinauf. Zum letzten Mal.
XIV
»Alles okay?«
Wulf erwartete ihn am Wagen. Er stand auf der Beifahrerseite und hielt Demi im Arm, die durch den Schuss erneut aufgewacht war. Murphy erkannte, welch ein Narr er gewesen war, nicht an das Kind und seine Gefühle zu denken. Demi blickte ihm entgegen. Ohne Urteil oder Zorn in den Augen. Murphy war sich sicher, dass sie verstand, was geschehen war.
»Willst du darüber reden?«, fragte Wulf.
»Lasst uns einfach fahren. Je eher wir hier weg kommen, umso besser.«
Er warf dem Mädchen einen ernsten Blick zu, mit dem er sein Handeln zu erklären versuchte. Die richtigen Worte wollten ihm nicht einfallen. Nicht jetzt. Aber Worte waren nötig. Die Stunde, in der er mit Demi reden musste, würde unweigerlich kommen. Er setzte sich ans Steuer und legte Wulf seine zitternde Hand auf den Unterarm. »Komm. Lass uns keine Zeit verschwenden.«
Wulf nickte, beugte sich in den Wagen und zwinkerte Demi zu. Sie wirkte noch kleiner und zerbrechlicher als zuvor. Mit langsamen Bewegungen wickelte sie die Decke ganz eng um ihren mageren Körper und versank im Sitz.
Wulf ging zum Pick-up, darauf vorbereitet, Darylls Fragen beantworten zu müssen. Er wusste ebenso wenig wie Murphy, was er sagen sollte.
Doch der
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