Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
eine weitere simple Geste, die vielleicht einen Abschied für immer bedeutete, und stieg aus. Das Knattern des Motors klang wie das Dröhnen eines Panzers in der Stille der Stadt.
III
Murphy lehnte gegen den Kotflügel seines alten Fords und betrachtete nachdenklich die düster wirkenden Schatten der Stadt in der Ferne. Der Ort erinnerte ihn an alte, verlassene Westernstädte, wie er sie früher, als seine Audrey noch bei ihm war, im Fernsehen sah. James Garner war ihrer beider Lieblingsschauspieler gewesen, da in seinen Filmen immer etwas Verlorenes und Einsames an ihm haftete.
Kagan´s Creek könnte eine solche Stadt sein. Die Häuser und Straßen waren verlassen. Das sah Murphy sogar auf eine Meile Entfernung. Nichts regte sich. Er bildete sich sogar ein, den subtilen, süßlichen Geruch des Todes in der Luft zu spüren. Als würden Fliegen über einem riesigen Kadaver schwirren.
Er drehte sich zu Demi um und bemerkte, dass das Mädchen ihn durch den Schmutz der Scheibe beobachtete. Ihr Gesicht war nur als weißer Fleck zu erkennen. Murphy ging langsam zur offenen Beifahrertür und blieb unbeholfen davor stehen. Sein Gewehr hielt er in der Armbeuge, den Blick ins offene Land gerichtet.
Wie gern würde er etwas zu Demi sagen. Er wusste nicht, wie viel das Mädchen vor dem Haus ihres Großvaters gesehen hatte. Doch der Schuss, der wie Donner durch die Stille der Welt gerollt war, musste ausgereicht haben, ihr das ganze Ausmaß des Schreckens näherzubringen. Sie hatte seither kein Wort gesprochen. In ihren Augen standen keine Vorwürfe, auch keine Furcht vor dem, was geschehen war, oder dem, was sie noch erwartete. Da war nur diese erschreckende Leere in ihrem Blick, die man in den Augen eines jungen Mädchens nicht finden sollte.
Murphy kannte die Kleine seit ihrer Geburt. Er erinnerte sich noch gut an jenen Tag vor ungefähr zwölf Jahren, als Harvey an einem Sonntag anrief und ihn und Audrey in sein Haus zum Essen einlud. Sein Sohn Barry und dessen Frau Shelley waren an jenem Wochenende aus Boston gekommen und hatten zum ersten Mal Harvs Enkeltochter mitgebracht. Murphy würde den stolzen Ausdruck in den Augen seines alten Freundes nie vergessen. Es war gerade so, als würde ihm das Mädchen seine verlorengegangene Jugend wieder zurückgeben. Harvey schien an diesem Tag plötzlich zehn Jahre jünger zu sein. Er spielte mit der kleinen Demi wie einer jener albernen Großväter in den Fernsehserien, wälzte sich mit ihr über den Boden und warf sie in die Luft, bis ihm seine Sarah lachend Einhalt gebot.
Demi war immer ein fröhliches, natürliches Kind gewesen. Im Laufe der Jahre und weiterer Besuche in den Hügeln war sie zu einem wunderschönen Mädchen herangereift, das all die Jahre nichts von ihrem kindlichen Charme verloren hatte. Sie wusste genau, wie sie die beiden alten Männer um den Finger wickeln konnte, um Süßigkeiten oder Spielzeug aus Murphys Laden zu ergattern. Und jetzt, zwölf Jahre nach jenem Sonntag, an dem Murphy das Mädchen zum ersten Mal zu Gesicht bekam, hatte er ihren Großvater erschossen.
Ihm wurde schwindlig von der Gedankenflut, die in seinem Kopf herrschte. Er hatte die Kleine immer geliebt und ihr bei jedem Besuch stets ein kleines Geschenk mitgebracht, ohne dass Demi ihren berühmten Augenaufschlag anwenden musste. Dass sie ihn auch mochte, wusste er, obwohl er nach Audreys Tod zu einem schweigsamen, mürrischen Einzelgänger geworden war.
Was mochte sie jetzt über ihn denken? Was sah sie in ihm? Nur mit Mühe schaffte er es, sie anzusehen. Demi sah klein und zerbrechlich aus. Ihr Haar hing zerzaust im Gesicht, die Haut war blass. Trotzdem war sie noch immer das kleine Mädchen, das an diesem Sonntag vor zwölf Jahren augenblicklich sein Herz erobert hatte.
Er kniete sich vor ihr hin, auch wenn seine alten Knochen protestierten, und sah ihr in die Augen. Es kostete ihn Überwindung, nicht schreiend davonzulaufen. Für Sekunden trafen sich ihre Blicke, die in all den Jahren soviel miteinander gelacht hatten. Murphy überkam eine tiefe Trauer, wenn er daran dachte, dass ihre großen Augen ihren kindlichen und neugierigen Glanz wahrscheinlich für immer verloren hatten. Er blickte in das Gesicht eines Mädchens, das von einem Tag auf den anderen erwachsen geworden war.
Er war nie gut darin gewesen, seine Gefühle auszudrücken. Erst recht nicht, seit Audrey gegangen war. Doch er musste etwas sagen. Demi wartete darauf. Das war er ihr und seinem alten Kumpel schuldig.
Doch das
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