Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Mädchen kam ihm zuvor: »Ich habe dir nie dafür gedankt, dass du mich aus dem Haus herausgeholt hast.«
Ihre Stimme erinnerte ihn an das leise Flüstern einer alten Frau. Sein Herz verkrampfte sich.
»Das brauchst du auch nicht«, antwortete er mit zugeschnürter Kehle. »Das brauchst du nicht, mein Engel.«
Er legte seine alte, fleckige Hand auf ihren Schenkel und erschrak, wie dünn sich das Bein unter dem Stoff der Hose anfühlte. Als würde er ein Skelett berühren.
»Weißt du, Demi …« Das Sprechen fiel ihm schwer, so als drückte ihm jemand erbarmungslos die Kehle zu. »Dein Großvater war nicht mehr der, den wir kannten. Er … er hatte sich verändert.« Murphy suchte nach den richtigen Worten. Vor seinen Augen sah er das Ding auf der Veranda stehen. Das wirre, graue Haar, das eingefallene Gesicht, die fleckige Hose. Und die dunklen Augen seines Freundes, über die sich ein milchiger Film gelegt hatte. »Dein Großvater war gebissen worden.« Seine Hand tastete hilflos nach der Stelle zwischen Hals und Schulter.
Demi wandte sich ab und starrte durch die Windschutzscheibe. Ihre Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt.
»Ich weiß. Es war wie bei Alicia.«
Murphy sah das Mädchen an, erfüllt von Zorn, Trauer und einer unbändigen Furcht. Doch er sagte nichts. Demi schien mit ihren Gedanken in einer anderen Zeit zu verweilen – einem anderen Leben. Dann sah sie Murphy mit Tränen in den Augen an. »Wir haben Alicia in Boston gefunden«, sagte sie mit schwerer Stimme.
Und dann erzählte sie ihm von der jungen Frau, die ihr Vater auf einem Erkundungsflug über Boston in den leeren Straßen der Stadt gefunden und in das Hospital gebracht hatte, in dem seine Familie und andere Überlebende ihre Zuflucht besaßen. Alicia war infiziert gewesen. Sie hatte, wie ihr Großvater, eine tiefe Bisswunde am Hals. Doch damals wusste noch niemand was es bedeutete, wenn man von den Kreaturen, die man in den Nächten vor dem Krankenhaus hören konnte, angefallen und gebissen wurde. Sie hatten Alicia in ihre Gemeinschaft aufgenommen, sie behandelt und zu heilen versucht. Das Mädchen jedoch trug die Saat des Todes in sich. Sie wurde kränker und schwächer. In einer Nacht wurde Demi von schrecklichen Schreien geweckt, die sie erst als letzte Fragmente eines besonders schlimmen Traumes deutete. Doch schnell erkannte sie die fürchterliche Wahrheit hinter den Schreien. Alicia hatte sich in eine blutrünstige Bestie verwandelt, die alle Mitglieder der kleinen Enklave auf grausame Weise tötete. Demi floh mit ihrem Vater und ihrer Mutter aufs Dach des Hospitals, wo der Hubschrauber stand. Während ihr Vater sie in die gläserne Kanzel schob, musste Demi mit ansehen, wie Alicia sie verfolgte, mit bluttriefendem Maul und Augen, in denen nichts Menschliches mehr zu erkennen war. Sie sah, wie ihre Mutter auf die Bestie schoss. Immer und immer wieder. Sie sah das Blut spritzen und wie der entstellte Leib des Mädchens zurückgeworfen wurde. Doch Alicia stürzte sich mit letzter Kraft auf Demis Mutter und zerfleischte sie vor ihren Augen. Sie erinnerte sich noch daran, wie ihr Vater in die Kanzel des Hubschraubers sprang, ihr Gesicht an seiner Brust verbarg und seine Tränen auf ihr Haar getropft waren. Und sie erinnerte sich daran, wie ihre Welt zu einem unbedeutenden Punkt in ihren rasenden Gedanken zusammenschrumpfte. Der Flug über Boston, zu den Hügeln, in denen sie ihren Großvater lebend angetroffen hatten, war für Demi zu einer Kakophonie aus Lärm, Schmerz und Tränen geworden; in einer Welt, die nie wieder so sein würde, wie sie einmal war.
»Ich weiß, dass mein Großvater zu einem Monster geworden wäre«, sagte sie schließlich nach einer kurzen Zeit des Schweigens. Murphy hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, was in Boston geschehen war. Er hielt den Kopf gesenkt und starrte auf den staubigen Boden zu seinen Füßen. Das Gewehr diente ihm als Stütze, denn seine Beine begannen zu schmerzen.
»Du hast das einzig Richtige getan, Onkel Murphy.«
Demi hatte ihn immer ›Onkel‹ genannt. Dieses Wort jetzt aus ihrem Mund zu hören, an diesem Ort und in dieser Zeit, war mehr als er ertragen konnte. Er beugte sich nach vorn und lehnte seinen Kopf an Demis Körper. Sie legte ihren Arm und ihn. Diesmal war sie es, die den alten Mann hielt. Es gab Zeiten, da war es umgekehrt gewesen.
Sie saßen eine Weile schweigend da, als Demi sich plötzlich aufrichtete. Ihr Körper spannte sich wie eine stählerne Feder an.
»Was
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