Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Kirchen so oft gepredigt worden war. Doch Wulf verdrängte den Gedanken so schnell, wie er entstanden war, auch wenn ein bitterer Nachgeschmack blieb.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte der Mann. Sein Gesicht war ausdruckslos. Er vermied es, seine Gefühle jemand anderem als seiner Familie zu zeigen.
»Wir werden weiter nach Stonington fahren«, antwortete Wulf, wobei seine Worte viel ihrer Sicherheit eingebüßt hatten. »Selbst wenn es stimmt, was Sie sagen, werden wir dort mit Sicherheit Lebensmittel, medizinische Versorgung und einen sicheren Ort finden, an dem wir eine Zeit lang bleiben können.«
Der Fremde schüttelte den Kopf.
»Glauben Sie mir«, erwiderte er. »Sie werden in Stonington nichts finden.«
»Alles, was wir vorfinden werden, ist besser, als sich ein Leben lang in einem dunklen Haus zu verkriechen.«
Wulf bedauerte die Worte, noch ehe der Satz beendet war, denn es klang mehr Missgunst als Überzeugung mit. Doch das Gesicht des Mannes zeigte keinerlei Regung.
»Jeder hat seine eigenen Ansichten über das, was wir noch als Leben bezeichnen«, sagte Louis leise, wobei er jedes seiner Worte überdacht zu haben schien. »Sie sollten jetzt gehen. Ihre Tochter hat, wonach sie suchte.«
Wulf betrachtete den Mann noch einige Sekunden. Er musste sich eingestehen, dass er ihn nicht nur um seine Familie beneidete, sondern auch um die Stärke, für seine Frau und sein Kind inmitten der Hölle ein neues Zuhause aufzubauen, so armselig und unwirtlich dieses Leben im Augenblick auch anmuten mochte.
»Was ist mit Ihrer Tochter geschehen?«, flüsterte Demi plötzlich mit heiserer Stimme.
Der Mann starrte sie wortlos an. In seinen Augen bildete sich ein dumpfer Kummer, der keine Worte benötigte.
»Sie wurde gebissen«, antwortete Martha an seiner Stelle. »Eine der Kreaturen hat sie am frühen Morgen erwischt. Ich habe versucht, sie gesund zu pflegen. Aber eines Tages war Jana plötzlich verschwunden.« Ein Schluchzen erstickte die Stimme der Frau. »Ich weiß weder was mit ihr geschehen ist, noch ob sie am Leben ist.«
Der Mann hob sein Gewehr. Plötzlich hatte sich wieder die Härte über die Trauer in seinem Gesicht gelegt.
»Gehen Sie jetzt.«
Wulf spürte, wie Demi seine Hand ergriff. Er ließ sich von dem Mädchen zum Ausgang führen, wo Murphy stand. Vorsichtig bückte sich der alte Mann nach seinem Gewehr, wobei er den Fremden nicht aus den Augen ließ. Doch dieser machte keine Anstalten, Murphys Handeln zu unterbinden.
An der Tür blieb Wulf noch einmal stehen und drehte sich zu dem Soldaten um. »Passen Sie auf Ihre beiden Frauen auf.«
Zum ersten Mal spielte ein Lächeln um die Mundwinkel des Mannes. »Das werde ich. Ich hoffe, Sie finden, wonach Sie suchen.«
Die Worte klangen wie eine Verurteilung für das, was sich Wulf als Ziel gesetzt hat. Ohne etwas zu erwidern verließ er den Gemischtwarenladen und trat mit Demi an der Hand in den kalten Regen hinaus.
Als sie zur Straße gingen, murmelte Murphy leise vor sich hin, während Demi ihre Bücher mit der freien Hand fest gegen die Brust drückte. In der Dunkelheit und Stille des Hauses blieben der Fremde und seine Familie zurück.
Wulf fragte sich, wer von ihnen den richtigen Weg einschlug. Er, der zusammen mit einem alten Mann und zwei Kindern durch eine entvölkerte Welt reiste, mit einem Ziel vor Augen, das sich als trügerisch erweisen konnte, oder der Fremde, der in relativer Sicherheit darauf hoffte, dass sich die Zeiten noch einmal ändern würden – diesmal zum Guten.
Die Antwort auf Wulfs Zwiespalt musste wahrscheinlich jeder für sich herausfinden. Und der Weg zu seiner ganz persönlichen Antwort lag irgendwo da draußen; in diesem verregneten, toten, grauen Land.
VIII
Ungefähr eine halbe Meile hinter dem kleinen Ort sahen sie ein Mädchen, bei dem es sich wahrscheinlich um die kleine Tochter des Fremden handelte. Sie stand etwas abseits der Straße auf einem Acker, dessen Erde im Regen schwarz glänzte, und starrte auf einen alten Baum, der seine kahlen Äste skelettartig in den düsteren Himmel streckte. Als sie die Wagen näher kommen hörte, drehte sie sich langsam zur Straße hin. Ihre Bewegungen wirkten träge und stockend. An ihrem kleinen Hals war deutlich ein schwarzes Loch zu erkennen. Sie trug eine blaue Jeanshose und eine weiße, zerrissene Bluse mit braunen Schlamm- und Blutflecken. In ihrem Haar schienen sich einige Äste verfangen zu haben, die ihr erbärmliches Dasein wie zur Verhöhnung krönten.
Wulf spürte einen bitteren
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