Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
nicht sicher, ob er das Mädchen festhielt oder sie ihn. Doch es war einerlei, denn sie konnten nur überleben, wenn sie sich gegenseitig stützten.
»Nimm die Bücher und komm«, flüsterte er ihr ins Ohr und küsste sie auf die schmutzige Stirn. Längst hatten sich seine Tränen mit den ihren vermischt.
Er ließ sie los und betrachtete ihr blasses, schmales Gesicht. Er war sich sicher, den Anflug eines Lächelns darauf zu erkennen. Plötzlich hörte er das Knarren von Holzdielen hinter sich.
»Lass das Gewehr fallen, alter Mann!«
Die Stimme kam aus der Dunkelheit und klang rau. Ein Mann, der es nicht gewohnt war, viele Worte zu machen.
Wulf wirbelte herum und drückte Demi instinktiv an sich. Ihre Bücher fielen polternd zu Boden.
»Ganz ruhig, mein Großer. Und du, alter Mann, runter mit dem Gewehr. Ich mache keine Scherze.«
Wulf versuchte das graue Zwielicht des Ladens mit seinen Blicken zu durchdringen. Doch alles blieb reglos. Die Stimme drang aus dem Nirgendwo zu ihnen. Er sah, dass Murphy in der Eingangstür stand und ihn fragend anblickte. Er ging im Geist ihre Möglichkeiten durch, doch angesichts der Tatsache, dass sie ihren Angreifer nicht sehen konnten und seine Stimme alles andere als versöhnlich klang, blieb ihre Auswahl auf ein Minimum begrenzt. Langsam nickte er Murphy zu. Als er sah, dass sich der alte Mann bückte und seine Waffe knirschend auf die Glasscherben auf dem Boden legte, spürte er, wie ihn für einen Moment nackte Panik durchfluten wollte.
Als ihr Gegner aus einem unbeleuchteten Durchgang in den Raum trat, erlangte Wulf seine Kontrolle zurück. Nun, da er seinen Kontrahenten erkennen konnte, kam ihm die Szene nicht mehr so surreal vor.
Der Mann hielt ein Gewehr gegen die Schulter und zielte über den Lauf direkt auf Wulf. Er trug eine zerrissene Armeeuniform, sein Gesicht wirkte bleich und angespannt, als hätte ein Künstler tiefe Furchen in Marmor getrieben. Sein Haar stand in wirren Strähnen vom Kopf ab.
»Hören Sie, Mister …«, begann Wulf, doch der Fremde schnitt ihm barsch das Wort ab.
»Was wollt ihr hier?«
»Wir sind auf der Durchreise und haben Benzin gebraucht.«
Der Blick des Mannes streifte Demi. »Und was macht die Kleine dann mit den Büchern?«
Wulf spürte, wie sich Demi noch enger an ihn drückte.
»Sie dachte, das Haus sei verlassen. Deshalb wollte sie sich die Bücher nehmen. Sie erinnern sie an ihren Großvater.«
Der Fremde trat einen Schritt näher und blieb hinter dem Verkaufstresen stehen, ohne Wulf aus dem Ziel zu entlassen.
»Erinnerungen sind tot«, spie er gepresst hervor. »So wie der Rest der Welt.«
»Die Erinnerungen meiner Tochter sind keineswegs tot«, log Wulf, um an ein eventuell vorhandenes Vatergefühl des Mannes zu appellieren.
»Die Sachen in den Häusern gehören uns«, antwortete dieser unbeeindruckt. »Ich konnte nicht verhindern, dass Sie das Benzin gestohlen haben. Aber ich werde nicht zulassen, dass Sie unseren Laden plündern.«
»Sie sind nicht alleine hier?«
Der Mann antwortete nicht. Sein Blick blieb auf Demi hängen und Wulf glaubte, trotz der Dunkelheit, tiefe Trauer in seinem Blick zu erkennen.
»Wo wollen Sie hin?«
Als sich die Augen erneut auf Wulf richteten, wurde der Blick wieder hart.
»Nach Stonington. Zur Militärbasis.«
»Dort ist nichts. Ich komme von dort.«
Wulf ließ Demi los und richtete sich auf, trotz des Gewehres, das nach wie vor auf ihn gerichtet war. Er hielt weiterhin Demis kalte Hand umklammert.
»Sie waren in Stonington?«
Der Mann nickte. »Ich war dort stationiert. Meine Familie und ich lebten in der Stadt.« Er ließ das Gewehr sinken und hielt es in Hüfthöhe, ohne den Lauf von Wulf abzuwenden. »Die Menschen in der Basis sind wie die Fliegen gestorben«, fuhr er mit zitternder Stimme fort. »Wir waren nur noch wenige, die übrig geblieben sind. Manche sind in Panik geflohen und haben versucht, mit Booten über das Meer zu flüchten. Andere, so wie ich, haben die, die ihnen noch geblieben sind, genommen und haben sich neue Unterkünfte gesucht.«
Wulf weigerte sich, den Worten des Fremden Glauben zu schenken. Seit er aus Deep River aufgebrochen war, hatte er Stonington als sicheren Ort vor Augen gesehen. Einen Ort, an dem er andere Überlebende antreffen würde und er ein neues Leben in dieser veränderten Welt beginnen konnte. Die Worte des Soldaten drangen nur schwer in seinen Verstand ein, doch sie begannen mit erbarmungsloser Härte Wulfs Illusionen zu zerstören und seine Hoffnungen in einen
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