Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
einer Kiste mit Konserven in die Halle kam, war ihr kleines Nest fertig.
Daryll hatte in der Zwischenzeit neben dem Tor gestanden und die Gegend im Auge behalten. Er nahm die Aufgabe als Wache sehr wichtig, und war auch ein wenig stolz darauf, wusste er doch, welche Verantwortung von Wulf dadurch auf seine Schultern geladen worden war.
Als Murphy mit der Kiste an ihm vorbeiging, ließ Daryll seinen Blick noch einmal über das Land streifen. Die Nacht rollte als schwarze Woge über den Horizont und löschte die letzten Schatten des Tages. Die Stadt war bereits nicht mehr zu erkennen.
›Ist schon seltsam‹, dachte Daryll mit einem Schaudern. Normalerweise würde er das Blinken von Lichtern und den typischen Lärm einer Stadt in der Nacht hören können. Musik, Motoren, das helle Lachen von Mädchen, die von ihren Freunden geneckt wurden. Doch nun war die Stadt einfach nur ein stiller, toter Schatten, der sich tief auf die Erde kauerte und darauf wartete, eines Tages von der Natur verschlungen zu werden.
Wieder einmal wurde ihm schmerzlich vor Augen geführt, wie wenig doch aus der alten Welt zurückgeblieben war. All das, was man früher als selbstverständlich erachtete, war verschwunden und durch Trostlosigkeit, Stille und Zerfall ersetzt worden. Er erinnerte sich an seine Gedanken, als er Devon hinter sich zurückgelassen hatte. Eines Tages würde nichts auf der Welt mehr einen Namen tragen. Es wäre keiner mehr da, der sich daran erinnern konnte, und Tag und Nacht würden ebenso namenlos über die Welt kommen wie der Tod, der gemeinsam mit dem Teufel durch die Wälder und über das Land streifte und die letzten Erinnerungen löschte.
Die Stadt besaß bereits keinen Namen mehr. Keiner von ihnen wusste, wie sie bis vor zwei Wochen noch genannt worden war. Das Schreckliche daran war, dass es auch niemanden zu interessieren schien. Die Lagerhalle bot ihnen einen gewissen Grad an Schutz vor der Stadt, die in dieser neuen Zeit nur noch mit Gefahr und Tod assoziiert wurde. Von etwas, das schlecht war, wollte man keinen Namen wissen. Irgendwann würde die Stadt vergessen in der Natur verschwinden und keiner würde ihren Namen in ein schlichtes Holzkreuz meißeln, das an sie erinnern sollte.
Daryll drehte sich um und wollte zu den anderen, doch ein Schatten stand direkt hinter ihm und versperrte ihm den Weg.
»Woran denkst du?«, fragte Wulf. Er trug seine Pumpgun lässig über die Schulter und durchsuchte das Dunkel vor dem Tor mit seinen Augen.
Daryll schüttelte langsam den Kopf. Mit den Gedanken an die Stadt war eine andere traurige Erinnerung in ihm aufgestiegen, deren Hunger er nicht stillen konnte.
»Das Mädchen auf dem Feld«, flüsterte er, damit die anderen ihn nicht hören konnten.
Murphy hatte begonnen, einige Holzscheite und Papier aufzuschichten. Demi saß, in ihre Decken gehüllt, neben ihm und öffnete mit ungeschickten Handbewegungen die Dosen, die ihr Abendessen darstellen sollten.
»Sie hat mich an Mary Jane erinnert.« Daryll blickte zu Wulf und vermied es, dass sich Tränen ihren Weg bahnten. »Sie hatte die gleiche Wunde am Hals.« Er drehte sich um und starrte ins Dunkel hinaus. »Was geschieht mit diesen Menschen? Das Mädchen war …«
Daryll suchte nach den richtigen Worten. Doch die Empfindungen, die der Anblick des Kindes in ihm ausgelöst hatte, waren so gegensätzlich, dass er sie unmöglich beschreiben konnte. Zum einen war da eine tiefe, kalte Furcht vor dem Wesen, als das Daryll das Mädchen betrachtete. Die Furcht davor, dass sie alle eines Tages so enden würden. Zum anderen spürte er aber auch ein schmerzvolles Bedauern, da Mary Jane wahrscheinlich das gleiche Schicksal ereilt hatte. Daryll wollte sich nicht vorstellen, dass seine kleine Freundin aus Devon als Zombie irgendwo in der Stadt umherirrte und mit jeder Sekunde die verstrich, mehr von ihrer Identität verlor. ›Sie verlieren ihre Namen‹, dachte er plötzlich und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. ›Nicht nur die Städte …‹
Wulf legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und spürte, wie Daryll unter der Berührung zusammenfuhr.
»Ich glaube nicht, dass das Mädchen auf dem Feld oder Mary Jane spüren, was mit ihnen geschieht.« Er wusste nicht, wie er die neue Welt einem dreizehnjährigen Jungen besser beschreiben konnte, ohne dass sich der Junge in den Wahnsinn flüchtete. »Die Menschen verändern sich, wenn sie von den Kreaturen gebissen werden. Sie verlieren das, was sie einst ausgezeichnet hat – ihr
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