Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
ob Murphy wirklich dazu in der Lage war, ihm im Ernstfall zur Seite zu stehen.
Doch dann bewegte sich die Gestalt, machte zwei Schritte auf ihn zu und trat ins graue Dämmerlicht, das durch die zerbrochene Eingangstür in den Raum fiel.
»Demi«, flüsterte Wulf und wusste nicht, ob er wütend sein oder das Mädchen fest in den Arm nehmen sollte, wie er es früher so oft mit Mikey getan hatte. Es schien eine Welt der widersprüchlichen Gefühle geworden zu sein. Das hatte Wulf bereits in Deep River zu spüren bekommen, als er Ellen und Mikey tot auffand.
Das Mädchen trat näher heran und blickte ihn mit Tränen in den Augen an. In diesem Moment wirkte sie so klein und schutzlos wie ein neugeborenes Baby. In den Händen trug sie einige Bücher. Wulf ging vor ihr auf die Knie und packte sie an den Armen. Eines der Bücher fiel polternd zu Boden. Der irrsinnige Gedanke, sie auf Bissspuren zu untersuchen, ging ihm wie ein gleißender Feuerstrahl durch den Kopf.
»Was tust du hier?«, flüsterte er, wobei sein anfänglicher Zorn beim Anblick ihres bleichen, von Tränen glänzenden Gesichtes verflogen war. »Weißt du nicht, wie gefährlich es hier sein kann? Du kannst nicht einfach allein in ein leeres Haus gehen.«
»Mein Großvater hatte mir ein Buch aus Devon mitgebracht.« Demis Stimme wurde von heftigem Schluchzen unterbrochen und brach schließlich ganz. »Es sollte sein letztes Geschenk für mich werden. Aber er konnte es mir noch nicht einmal selbst überreichen.«
Sie hielt Wulf zwei Bücher entgegen. »Onkel Murphy hat es neben dem Wagen im Gras gefunden.«
Er wusste nicht, ob das Mädchen am vorherigen Morgen mit angesehen hatte, wie Murphy das Ding, das einmal ihr Großvater und Murphys bester Freund gewesen war, auf der Veranda des alten Häuschens erschoss. Sie hatte ihm gegenüber bisher kein Wort darüber verloren. Andererseits konnte Wulf nicht in die Seele des Mädchens blicken und all die düsteren Gedanken und Bilder erkennen, von denen es vielleicht gepeinigt wurde.
»Kleines, du kannst nicht dein Leben für ein paar Bücher riskieren.« Er strich ihr über die Wange und verwischte ihre Tränen. Sie starrte auf die Bücher, als besäße sie den größten Schatz, den die Welt ihr noch bieten konnte.
In diesem Augenblick erkannte Wulf, dass es in dieser schrecklichen, stillen Welt noch immer so etwas wie Hoffnung gab. Demi klammerte sich an die Erinnerungen aus ihrem früheren Leben. Sie wollte sich daran festhalten und hochziehen, und sie mit in ihre neue Welt nehmen. Wulf erkannte plötzlich, dass er im Grunde nichts anderes tat. Jedoch hielt er sich nicht an profanen Büchern fest, die für das Mädchen eine Art von Anker bedeuteten und einen kleinen Teil von ihr in der alten Welt festhielten. Wulf klammerte sich vielmehr an Demi und Daryll, und war sich sicher, dass er alles in seiner Macht stehende versuchen würde, seine neuen Gefährten nach Stonington und somit in Sicherheit zu führen.
Nun, da er vor dem Mädchen in der Dunkelheit kniete und ihre Tränen wie kleine Diamanten glitzern sah, wurde ihm bewusst, dass er sein Leben den beiden Kindern verpfändet hatte, da er seinen eigenen Sohn an die Schrecken dieser Welt verlieren musste. Vielleicht waren es gerade Demi und Daryll, die ihn dazu antrieben, immer weiter durch das Land zu ziehen, bis sie einen sicheren Ort zum Leben finden würden. Der Gedanke gefiel Wulf, denn zum ersten Mal seit dem Beginn der Katastrophe sah er wieder ein greifbares Ziel vor Augen, das zwar die ganze Zeit über da gewesen war, sich jedoch tief hinter seinen Ängsten und Zweifeln versteckt gehalten hatte.
»Komm her, Kleines«, flüsterte er und spürte nun seinerseits, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Er zog das Mädchen zu sich heran und nahm es in die Arme. Sein Haar roch nach Erde und Schweiß und ein klein wenig nach dem Stroh der Scheune, in der sie übernachtet hatten.
Er hielt Demi fest an sich gedrückt. Sie verwandelte sich in seinen Gedanken nicht in Mikey, sondern blieb einfach Demi. Obwohl sich ihr Körper hager und ausgezehrt in seinen Armen anfühlte, und sie sich an einem düsteren, verlassenen Ort festhielten, an dem sie nicht ohne ausreichenden Schutz sein sollten, fühlte es sich doch gut und richtig an. Wulf spürte zum ersten Mal seit Tagen so etwas wie Leichtigkeit und Glück in sich aufsteigen. Gefühle, von denen er glaubte, sie zusammen mit Ellen und Mikey begraben zu haben. Er fühlte sich lebendig.
In dem Moment war er sich
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