Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Kloß in der Kehle, als Mikeys Gesicht vor seinem inneren Auge auftauchte. Er fuhr ohne anzuhalten an dem kleinen Mädchen vorbei und steuerte in der Hoffnung, dass Louis und Martha nie erfahren würden, was aus ihrer kleine Jana geworden war, auf die nahen Berge zu, die sich schemenhaft aus dem Regen erhoben.
IX
Die Straße teilte die Hügel wie ein Schwert aus Asphalt und Stein. Als die Felswände zu beiden Seiten steil in den Himmel ragten, wurde es dunkel, obwohl es noch zwei Stunden bis Sonnenuntergang waren. Angesichts der riesigen Gesteinsmassen, und der schwarzen, tief über den Bergen dahinrasenden Wolken, wurde Wulf einmal mehr auf die Unscheinbarkeit der Menschen hingewiesen, die sich bis vor zwei Wochen als die Herren der Welt bezeichneten. In Wahrheit jedoch, waren sie nicht mehr als die sprichwörtlichen Staubkörner, die der Wind jederzeit mit sich forttragen und somit die letzte Erinnerung an ihre Existenz auslöschen konnte.
Als sie die Berge hinter sich in den Schatten des Regens zurückließen, wurde das Land unwirtlicher. Zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich niedrige Felsen, die wie ein riesiges, graues Meer wirkten. Dazwischen wuchsen abgestorbene Bäume und Büsche. Die steinernen Wellen verliehen dem im Regendunst verschwommenen Land eine unheimliche Atmosphäre. Waren die weiten Felder und Äcker jenseits der Berge noch Zeuge einstiger Besiedlung und Leben gewesen, so spürte man hier den Tod, der unsichtbar über die Felsformationen zu wandeln schien und die Welt erstarren ließ.
Als sie die ersten Schilder passierten, die den nahen Highway ankündigten, fuhr Wulf unwillkürlich schneller. Der Motor des alten Pick-ups heulte wie ein verletztes Tier und schüttelte sich angesichts der Qualen, die ihm zugefügt wurden. Doch schon nach wenigen Minuten konnten sie die Tristesse einer verheerten Welt hinter sich lassen und sich in die letzten Überreste ihrer einstigen Zivilisation einreihen.
Wie Wulf vermutet hatte, war der Highway relativ leer. Die Katastrophe war in der Nacht über die Welt gekommen und so stießen sie nur gelegentlich auf die Wracks von Autos und Lastkraftwagen, die von ihren Besitzern im Moment des Todes in die Leitplanken gefahren worden waren oder umgekippt quer über der Straße lagen.
Hier hätten sie ausreichend Benzin abzapfen können. Doch Wulf vermutete, dass ihre Reserven bis nach Stonington reichen würden, weshalb er sich die mittlere Spur aussuchte, um den Wracks am Straßenrand nicht ausweichen zu müssen. Sollte ihr Kraftstoff wider Erwarten doch nicht ausreichen, brauchten sie nur anzuhalten und die Prozedur, die Wulf an dem Mustang abgehalten hatte, an irgendeinem Fahrzeug zu wiederholen.
Der Anblick des Highways wirkte verstörend. Wo sich um diese Tageszeit vermutlich hunderte von Menschen in ihren Autos auf dem Weg nach Hause oder zur Arbeit befunden hätten, erstreckte sich der graue Asphalt wie eine endlose Wüste aus Stein. Einige wenige Autos standen, wie zur letzten Verhöhnung einstiger Zivilisation, mit offenen Türen, zerborstenen Scheiben und Blutspuren, wie das weggeworfene Spielzeug eines Riesen inmitten von Kisten und Metallteilen, die irgendein schlingernder Lastwagen verloren hatte, bevor er in die Leitplanke gekracht war. Wulf musste sich konzentrieren, um sich nicht die Reifen an den zahlreichen Hindernissen aufzuschlitzen. Eine Panne war das Letzte, das sie gebrauchen konnten.
Als sich der Abend als dunkles Band am Horizont ankündigte und die Felder und kleinen Ortschaften, die den Highway wie Schaulustige säumten, mit einem fahlen Licht überzog, sahen sie zum ersten Mal ein Schild, auf dem ihr Ziel ›Stonington‹ in dunklen, verwitterten Buchstaben stand.
Wulf spürte ein Kribbeln in sich. Ob aus Furcht, dass der Fremde Recht behielt und sie auf der Militärbasis nichts Lebendiges vorfinden würden, oder aus purem Übermut, da sie endlich ein kleines Teilziel erreichten, konnte er nicht sagen. Er befürchtete Ersteres, doch er hoffte inständig auf das Zweite. Dafür war er sogar bereit, zu jenem Gott zu beten, der ihm das Liebste auf der Welt genommen hatte.
Bis Stonington waren es noch etwa fünfzig Meilen. Vor Anbruch der Dunkelheit würden sie die Stadt und ihre Basis nicht erreichen können. Deshalb fuhr Wulf an der nächsten Ausfahrt herunter und steuerte ein niedriges Gebäude an, das er vom Highway aus gesehen hatte. Es stand ungefähr eine Meile vor einer Stadt am Ende eines sandigen Feldweges und besaß die
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