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Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Titel: Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dissieux
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Denken, ihre Gefühle und zuletzt ihre Erinnerungen.«
Wulf dachte an den alten Mann auf der Veranda des kleinen Hauses, von dem sich Murphy mit einer Gnadenkugel verabschiedet hatte. »Glaub mir, Daryll, für Mary Jane war es am besten. Sie hat nicht gelitten und ihr Verstand hat nie erfahren müssen, was aus ihr geworden ist.«
Daryll drehte sich zu ihm um. Er fuhr sich mit dem Arm über die Augen, als sei er müde. In Wahrheit versuchte er lediglich seine Tränen zu verbergen.
»Sie verlieren ihre Namen«, flüsterte er. Sein Mund war eine dünne Linie, die Gesichtszüge hart und dennoch die traurige Miene eines Kindes. »Die Welt verliert ihren Namen, Wulf. Genauso wie wir. Wir sind nicht mehr Jim und Daryll. Wir sind einfach nur … tote Dinge .«
Daryll ging in die Halle, setzte sich etwas abseits von den anderen in den Staub und sah zu, wie Murphy ein kleines Feuer entfachte. Wulf betrachtete den Jungen, der in den Schatten zweier Ölfässer wie ein verletzbares Kind wirkte. Vielleicht hätte er seine Worte mit mehr Bedacht wählen sollen. Seine Erinnerungen und die Tatsache, dass diese Gedanken durchaus auch seine Zukunft beherbergen konnten, machten Daryll Angst. Egal, welche Worte Wulf gewählt hätte, es wären nie die richtigen gewesen. Die Welt nahm ihnen die Fähigkeit, sich gegenseitig Trost zu spenden. Es gab keine guten und richtigen Worte inmitten von Sterben und Zerstörung. Alles was gesagt werden konnte, waren falsche Worte.
Wulf griff nach dem kalten Stahl des Rolltores und zog es Stück für Stück in der verrosteten Schiene nach unten. Staub rieselte wie ein Schleier durch das Dunkel. Daryll kam zu ihm und half stumm. Dabei wirkten seine Bewegungen mechanisch, wie die eines Roboters.
Als das Tor geschlossen war, beschwerte Wulf die Griffe am Boden mit Holzkisten, so dass jemand, der das Tor von außen öffnen wollte, Schwierigkeiten bekäme und genug Lärm machen müsste, dass sie ihn mit angelegten Waffen empfangen konnten.
Dann gingen sie zu Murphy und Demi zurück und aßen gewärmte Bohnen, hartes Trockenfleisch und eingelegte Birnen. Zum Trinken gab es, wie bei jeder Mahlzeit, Wasser in Flaschen, das leicht schal schmeckte.
Daryll hatte sich wieder in die Schatten verkrochen und aß schweigend und konzentriert. Der Feuerschein erreichte ihn kaum, so dass der Junge lediglich eine namenlose Ahnung im Dunkeln blieb.
X
Am nächsten Morgen weckte sie Murphy, der die letzte Wache übernommen hatte. Bleiernes Licht fiel durch verstaubte Dachfenster in die Halle und bedeckte die Kisten und Fässer mit Asche.
Sie aßen die kalten Reste des Abendessens und genossen eine Dose Pfirsiche, die Wulf als besonderen Leckerbissen aus seinem Rucksack genommen hatte und nun herumreichte. Daryll hielt sich noch immer abseits und saß in einem fahlen Lichtstrahl, in dem Staub und Ascheflocken des Lagerfeuers vom Vorabend tanzten.
Bei Wulf entstand der Eindruck, als verschmelze der Junge mit seiner Umgebung zu einem einheitlichen Schatten. Vielleicht war auch genau das die Absicht. Der Lichtstrahl tanzte verzweifelt um Daryll herum, doch der Junge bewegte sich nicht. Er hätte eine Statue sein können, die im Lager in Vergessenheit geraten war.
Während Murphy die wenigen übriggebliebenen Dosen wieder in eine Kiste packte, durchsuchte Wulf die Halle in der Hoffnung, auf etwas zu stoßen, das sich als nützlich erweisen konnte. Doch die Fässer waren entweder leer oder zur Hälfte geleert. Ein Blick in einen der Behälter verriet ihm, dass sich eine dicke, stinkende Schlammschicht auf dem Öl abgelagert hatte. In diversen Holzkisten fand Wulf einige vom Rost angegriffene Werkzeuge. Die Maschinen, die am Abend lediglich bizarre Formen im Dunkeln waren, entpuppten sich als landwirtschaftliche Geräte. Wulf fand einige Rasenmäher, motorbetriebene Sensen, sowie einen Pflug, den man hinter einen Traktor spannen konnte. Alles schien schon mehrere Jahre in der Halle zu verrotten und war von braunem, rauem Rost zerfressen. Die Sitze der Rasenmäher waren gerissen, so dass braune und gelbe Wolle wie getrockneter Eiter daraus hervorquoll.
Nachdem Murphy ihre Sachen zusammengepackt hatte und bereits mit Demi am Tor wartete, stemmte Wulf mit Hilfe des Balkens das Tor wieder nach oben. Daryll gab ihm Deckung, indem er auf Knien mit seiner Magnum durch den breiter werdenden Spalt nach draußen zielte.
Wulf und Daryll bemerkten die Hufspuren zur gleichen Zeit. Beide hielten kurz in ihrer Tätigkeit inne und sahen sich an.

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