Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
bei ihr bemerkt, sagt mir Bescheid.«
Demi und Daryll nickten beide stumm und betrachteten teils fasziniert, teils verängstigt das fremde Mädchen. Murphy hatte sich neben sie gesetzt, doch er fühlte sich sichtlich unwohl und nervös.
Wulf setzte sich wieder hinters Steuer, schloss die Tür und legte knirschend den Gang ein. Der Freeway breitete sich weiterhin wie ein asphaltiertes Meer vor ihnen aus. Wulf hoffte, dass sie bald das jenseitige Ufer und somit vielleicht Rettung aus ihrer Situation erreichen würden. Mit dröhnendem Motor und vibrierenden Scheiben setzten sie ihre Fahrt nach Mayfield fort.
Kapitel 5
Leben
I
Die friedvolle Atmosphäre eines Ausfluges am Sonntagnachmittag, die sie die Schrecken dieser neuen Welt für wenige Momente hatte vergessen lassen, war einer schweigsamen Anspannung gewichen. Das fremde Mädchen war einem Schatten gleich in ihrem Leben aufgetaucht und saß wie ein Gespenst zwischen ihnen. Sie schien nicht mitzubekommen, was um sie herum geschah. Ihr verklärter Blick war weiterhin starr nach vorn auf das trostlose Asphaltband der Straße gerichtet, die Hände lagen kraftlos in ihrem Schoß.
Wulf beobachtete sie im Spiegel und fragte sich, welche schrecklichen Erlebnisse den Geist eines Menschen zu brechen vermochten, dass nur noch eine blasse Hülle zurückblieb. Er wurde wieder einmal an seinen eigenen Auszug aus Deep River erinnert. An die maßlose Furcht, die seine Gedanken zu sprengen drohte, als er das Haus verlassen hatte und auf seinem Motorrad durch eine Welt fuhr, die nur der Vorhof der Hölle sein konnte. Das Gefühl, nicht mehr die Gewalt über seinen Verstand zu besitzen, hatte die Welt um ihn herum verschwimmen lassen, als würde sie sich hinter einem Wasserfilm vor ihm verstecken. Häuser, in denen seine Freunde gelebt und in denen er mit Ellen so manch fröhlichen Abend verbracht hatte, standen leer und atmeten eine stille Einsamkeit aus. Straßen, durch die er spaziert war, Plätze, die ihn an unbeschwerte und sorglose Tage erinnerten, waren verwaist und jeglichen Lebens beraubt. Autos standen quer auf den Straßen und aus den Häusern drang der Gestank verdorbener Lebensmittel und Fäulnis. Über den Dächern seiner Stadt hing der Tod wie Nebel am frühen Morgen.
Wulf erinnerte sich gut an die kalte Hilflosigkeit, die seinen Körper zu lähmen drohte und klare Gedanken unmöglich machte. Er war durch einen besonders schlimmen Traum gefahren, der ihn mit eisernen Klauen gepackt hatte und unaufhörlich vorantrieb, ohne dass er sich seines Handelns bewusst wurde. Dieses zerschmetternde Gefühl purer und unverfälschter Angst war ihm so unwirklich erschienen, als hätte eine fremdartige Lebensform von seinen Wesen Besitz ergriffen und er selbst stünde daneben und beobachtete sich.
Was musste dem Mädchen erst widerfahren sein, dass sich ihr Verstand nicht einmal mehr der namenlosen Furcht stellte, die ihren Körper zweifelsohne gefangen hielt? Welche Schrecken hatten ihre Augen mit ansehen müssen, um ihren Glanz zu verlieren und zu verlöschen?
Sie erinnerte Wulf an eine wandelnde Leiche, wie man sie aus Filmen kannte. Damals verspürte er jene Mischung aus Belustigung und Schaudern, wenn er sich Ellen zuliebe diese Filme mit ihr im Kino ansah. Heute erweckte der Anblick des Mädchens in ihm die gleiche kalte Furcht wie in Deep River; nämlich eine archaische, tief im Menschen verwurzelte Angst vor dem Unbekannten, die das Begriffsvermögen des Verstandes bei weitem übertraf. Er ertappte sich bei dem Wunsch, sie hätten das Mädchen auf der Straße zurückgelassen. Welche furchteinflößenden Empfindungen mussten Daryll und Demi beim unheimlichen Anblick der Fremden heimsuchen, wenn selbst er es nicht schaffte, sich aus dem Gewebe uralter Furcht zu befreien?
Der Wunsch, das Mädchen seinem Schicksal überlassen zu haben, war eines Menschen, der einmal an Gott geglaubt hatte, nicht würdig und beschämte Wulf. Doch sowohl der Mensch in ihm wie auch der einstige Glaube, waren mit dem Rest der Welt und ihren Farben verschwunden. Zurück blieb ein Mann, der sein Handeln, das fremde Mädchen betreffend, bereute.
»Sie sieht aus wie Meg Ryan«, hörte er Demi plötzlich leise flüstern. Er musste sich etwas nach außen beugen, um sie im Spiegel sehen zu können. Sie hatte sich zu Daryll gedreht und schirmte ihren Mund mit der Hand ab.
»Wer?«
Daryll blickte desinteressiert zum Fenster hinaus.
»Meg Ryan in ›Schlaflos in Seattle‹. Kennst du den Film nicht?«
Daryll
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