Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
ein zartes Pflänzchen in sich, das sich vielleicht irgendwann wieder in blühende Hoffnung verwandeln konnte.
XV
Sie fuhren den Freeway an der Küste entlang. Das Meer begleitete sie mit friedlichem Glitzern, der Geruch von Weite und Freiheit strömte durch die geöffneten Kippfenster des Busses. Hinter dem endlosen Grau des Himmels war die bleiche Scheibe der Sonne zu erkennen. Es hätte ein friedvoller, harmonischer Sonntagsausflug sein können, dachte Wulf, der glücklich darüber war, die beiden altertümlichen Wagen gegen den Bus eingetauscht zu haben. Auf diese Weise waren sie alle zusammen und Wulf konnte ein Auge auf Demis Gesundheitszustand werfen. Außerdem kamen sie mit dem Bus schneller voran. Dazu schaukelte und klapperte er bei weitem nicht so sehr wie der Pick-up.
Wulf hatte sich vergewissert, dass der Tank voll war. Irgendeine loyale Seele hatte den Bus am letzten Tag der Erde vollgetankt, ohne zu ahnen, dass er mit seiner Gewissenhaftigkeit vier überlebenden Menschen des Weltuntergangs das Leben rettete.
Sie kamen gut voran, doch als sich der Horizont über dem Meer dunkler zu färben begann, wusste Wulf, dass sie Mayfield an diesem Tag nicht erreichen konnten. Sie würden mit dem Bus zwar durch die Nacht fahren können, doch er wollte kein unnötiges Risiko eingehen.
Auf den grauen Asphalt des Freeways war in unregelmäßigen Abständen die gleiche Botschaft wie an den Wänden der Militärbasis gemalt. ›Mayfield = Leben‹ , hieß es immer wieder. Wulf fand, dass Worte noch nie so schön ausgesehen hatten. Irgendwann muss den Fremden, die diese Botschaften geschrieben hatten, die rote Farbe ausgegangen sein, denn nach etwa fünfzig Meilen war die Schrift in Blau gemalt.
An einer dieser Markierungen stand ein alter Wasserturm am Straßenrand. Er musste aus einer Zeit stammen, als diese noch für Lastkraftwagen gebraucht wurden. Die hölzerne Konstruktion erschien morsch, der Kessel von Rost zerfressen. Reifenspuren im Sand zwischen den Streben des Turms zeigten, dass die Fremden den Turm scheinbar als Übernachtungsmöglichkeit genutzt hatten.
Wulf vermutete, dass in weniger als zwanzig Minuten die Nacht hereinbrechen würde. Deshalb fuhr er den Bus vor den Wasserturm und wies Murphy (ihren Versorgungsoffizier) an, eine Kiste mit Vorräten für die Nacht zu füllen. Währenddessen erkundete er zusammen mit Daryll die Gegend.
So weit draußen im freien Land würden sie auf keine dieser schrecklichen Kreaturen treffen, denn es gab nichts, wo sie sich am Tag hätten verstecken können. Die Küste mit ihren Hütten und Bootshäusern war zu weit entfernt, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Wulf stieg die eiserne Leiter zur Plattform empor, die wie eine Veranda um den Wasserkessel führte, und überprüfte den vernieteten Holzboden auf Belastbarkeit. Trotz seines augenscheinlichen Alters war der Turm nicht vernachlässigt worden. Vielleicht war er ein Wahrzeichen für einen der Orte, die in der Nähe entlang der Küste angesiedelt waren.
Als Murphy mit der Kiste am Fuß des Turmes erschien, half Wulf sie nach oben zu tragen. Dann nahm er die Tasche mit der Munition, verschloss die Türen des Busses und stieg nach den Kindern nach oben.
Daryll und Demi waren beide in mehrere Wolldecken gehüllt und lehnten sich aneinander. Wulf kam der Gedanke, dass sie wie ein altes Ehepaar im frostigen Winter aussahen. Er lächelte den beiden zu, dann gesellte er sich zu Murphy, der bereits damit beschäftigt war, Dosen mit Obst und Fleisch zu öffnen. Eine Tätigkeit, die ihm in letzter Zeit in Fleisch und Blut übergegangen war.
Wulf bemerkte, dass neben ihm vier Tafeln mit Schokolade auf dem Holzboden lagen. Er setzte sich dem alten Mann im Schneidersitz gegenüber, griff in die Jackentasche und zog den Schlüssel des Fords heraus. Murphy beobachtete ihn dabei phlegmatisch. Als er jedoch den Schlüssel in Wulfs Hand erkannte, hielt er in seiner Bewegung inne.
»Ich dachte mir, jeder sollte etwas aus der alten Zeit bei sich tragen.«
Murphy betrachtete den Schlüssel, als hielte Wulf den wertvollsten Schatz der Welt in seiner Hand. Dann öffnete er seine Handfläche und Wulf ließ den Schlüssel klimpernd hineinfallen. Murphy strich gedankenverloren über den kleinen, runden Anhänger. Er schien aus Bernstein zu sein. In seinem Innern war ein rotes Herz eingelassen.
Wulf dachte, dass der alte Mann vielleicht von Audrey erzählen wollte. Von ihren unzähligen Fahrten in der alten Betsy, der Musik, die sie dabei gehört
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