Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
und wie sehr sie den Wagen mit ihrem Lachen und ihren Küssen erfüllt hatten. Doch Murphy schwieg. Er schloss die Faust um den Schlüssel und steckte ihn in seine Jackentasche.
»Danke«, flüsterte er.
Der Klang seiner Stimme verriet Wulf, dass Murphy all diese Dinge nur zu gerne erzählt hätte. Doch noch verwahrte er seine schönsten Erinnerungen in seiner goldenen Schatztruhe – nicht bereit, diese zu öffnen.
In der Nacht, als die Kinder schliefen und Murphy Wulf beim Wachtdienst ablöste, fragte der alte Mann, was denn Wulfs Erinnerung an die alte Welt sei, die er, wie Murphy den Schlüssel seiner Betsy, bei sich trug. Wulf dachte darüber nach, konnte die Frage jedoch nicht beantworten. Außer seiner Kleidung trug er nichts bei sich, das ihn mit Deep River oder seinem Leben dort verband. Als er aufgebrochen war, hatte er es sogar versäumt, ein Foto von Ellen und Mikey einzustecken. Seine Brieftasche lag immer noch auf dem Nachttisch im Schlafzimmer. So wie immer.
In dieser Nacht, unter dem verrosteten Wassertank und vom fernen Rauschen der Wellen begleitet, schliefen sie wegen der Kälte, welche die Dunkelheit mit sich trug, nur wenig. Als sie am nächsten Morgen weiterfuhren, waren sie dennoch guter Dinge.
Ungefähr zehn Meilen vor Mayfield, mitten auf der Straße, trafen sie Meg.
XVI
Sie wussten nicht, ob das Mädchen wirklich Meg hieß. Demi nannte sie so, weil sie der Ansicht war, dass sie mit ihren kurzen, blonden Haaren Meg Ryan zum Verwechseln ähnlich sah. Obwohl Ryan mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben war, stand dort das perfekte Abbild von ihr. Zumindest auf die Entfernung hin.
Als der Bus ungefähr fünf Meter vor dem Mädchen anhielt, verflog der Zauber des Hollywoodstars. Sie stand auf dem Mittelstreifen und starrte in die Richtung, in der Mayfield lag. Sie trug eine alte verwaschene Jeans und eine für die Jahreszeit viel zu dünne Cordjacke. Ihre Füße steckten in zerfetzten Turnschuhen, was bei Wulf die Vermutung aufkommen ließ, dass Meg schon seit Tagen auf dem Freeway unterwegs sein musste.
Ihre Arme hingen kraftlos an den Seiten ihres hageren Körpers herab. Als sie den Bus näherkommen hörte, drehte sie sich zur Seite, jedoch nur so weit, dass sie den Wagen aus den Augenwinkeln erkennen konnte. Ihren Kopf hielt sie dabei gesenkt, das zerzauste Haar fiel in ihre Stirn.
»Ihr bleibt im Bus«, sagte Wulf. Er ließ den Motor laufen, griff seine Waffe und stieg aus.
»Ich hoffe, sie ist nicht gebissen worden«, flüsterte Demi. Sonst sprach niemand etwas.
Sie beobachteten voller Anspannung, wie sich Wulf vorsichtig dem Mädchen näherte. Den Lauf der Pumpgun hielt er nach unten, doch Murphy war sich sicher, dass er darauf vorbreitet war, jederzeit die Waffe hochzureißen und abzufeuern.
»Kleines.«
Das Mädchen wirkte zierlich, doch als Wulf sich ihr näherte und sie sich langsam zu ihm umdrehte, erkannte er, dass sie älter war, als er auf den ersten Blick angenommen hatte. Dachte er zuerst, sie müsste in Demis Alter sein, so korrigierte er seine Annahme jetzt auf ungefähr siebzehn.
Sie starrte auf den Boden, die Waffe schien sie nicht zu beeindrucken. Der Wind spielte mit ihrem Haar, in dem Dreck und kleine Äste klebten.
»Ich bin Jim«, sagte er so einfühlsam, wie es seine Anspannung zuließ. Sie antwortete nicht.
Er betrachtete ihren Körper, fühlte sich ihr gegenüber für einen Moment schamlos. Doch die Überprüfung war in diesen Tagen eine Notwenigkeit geworden. Sie wies bis auf Abschürfungen im Gesicht keinerlei Verletzungen auf, soweit er das wegen des Jackenkragens beurteilen konnte.
»Hast du auch einen Namen?«
Sie starrte weiterhin auf die Straße, als erwarte sie eine Entscheidung, was mit ihr geschehen solle.
»Was tust du hier draußen?«, versuchte Wulf es erneut. »Hast du dich in einer der Ferienanlagen entlang der Küste versteckt?«
Noch während er sprach wusste er, dass er keine Antwort erhalten würde. Er betrachtete ihr Gesicht, soweit es das verkrustete Haar zuließ. Zahlreiche Kratzer, die von Ästen stammen konnten, verunstalteten ihre blassen Wangen. Die Nase und das Kinn waren schmutzig. Erst jetzt bemerkte Wulf, dass ihre Jacke am Arm zerrissen war. Eine Waffe schien sie nicht bei sich zu tragen. Zumindest konnte er die typische Beule eines Halfters nicht erkennen. Die Möglichkeit, dass sie – ähnlich wie Daryll – eine Pistole im Bund ihrer Hose trug, bestand natürlich. Doch sie wirkte harmlos auf Wulf, und nicht dazu in der
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