Graues Land (German Edition)
geschulter Verstand nicht fähig.
Das Einzige, was mir noch in Erinnerung geblieben ist, war die Rede des amerikanischen Präsidenten, dessen Gesichtszüge schmal und übermüdet wirkten. In seinen Augen hatte ich trotz seiner straffen Haltung eine tiefempfundene Furcht entdecken können. Wenn man so alt geworden ist wie ich, dann erkennt man die Emotionen der Menschen in ihren Augen ohne größere Schwierigkeiten.
Der Mann sprach mit ernster Stimme von einem unverzeihlichen Angriff auf die gesamte westliche Welt, und er drückte sein unendliches Bedauern und seine persönliche Anteilnahme für das Leid der Menschen in Europa aus. Auf keinen Fall würde man einen derart barbarischen Akt der Verachtung von Menschenwürde und menschlicher Zivilisation ohne die geeigneten Gegenmaßnahmen hinnehmen. Zu lange schon hätten er wie auch seine Vorgänger im Amt und ihre europäischen Kollegen vor dem rebellischen Verhalten der arabischen Länder und deren religiöser Ausrichtung und politischen Zielsetzungen in der Welt gekuscht. Mit dieser Politik der Toleranz müsse von dieser Stunde an Schluss sein.
Ich kann mich heute nicht mehr an den genauen Wortlaut der Rede des Präsidenten erinnern. Doch ich weiß noch, dass er von geeigneten Vergeltungsmaßnahmen sprach, und davon, dass diese nicht lange auf sich warten lassen würden. Die USA und Europa würden sich zusammenschließen und all ihre militärische Macht in die Waagschale werfen, um die Gerechtigkeit siegen zu lassen und den Osten in seine Schranken zu verweisen.
Er sprach nie von Krieg – das Wort hatte er nie verwendet.
Und zu einem Krieg ist es im Grunde auch nie gekommen ...
Zu meiner Linken taucht die Einfahrt zum Haus der Millers aus dem trüben Licht des Morgens auf. Zwei alte Holzpfosten flankieren den Weg. Ihre schwarze, wettergebleichte Farbe wirkt wie das stumpfe Grau abgestorbener Haut.
Ich stoppe den Wagen am Straßenrand und erschrecke, als das monotone Quietschen der Karosserie verstummt. Lediglich das unregelmäßige Knattern des Motors zerteilt die Stille der Welt. Plötzlich werde ich zum bizarren Teil dieses fremdartigen Gemäldes, in das sich die Hügel und Wälder verwandelt haben.
Mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen blicke ich den ausgetretenen Sandweg zu der kleinen Blockhütte hinauf, in der Cindy und Danny Miller seit ungefähr fünf Jahren leben. Sie waren damals aus Los Angeles gekommen, auf der Suche nach Ruhe und Inspiration für ein Buch, das Danny schreiben wollte, aber bis zum heutigen Tage nie beendet hat, wie ich weiß. Cindy hatte schnell eine Anstellung als Lehrerin in Devon gefunden, und beide engagierten sich sehr in der Kirche der kleinen Stadt, wofür ihnen der alte Pater Morris überaus dankbar war.
Seit die Welt zu Grunde gegangen ist, habe ich beide nicht mehr gesehen.
Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich in den letzten zehn Tagen auch keinen einzigen Gedanken an Danny und Cindy verschwendet habe. Ein weiterer Aspekt der menschlichen Natur. In Krisenzeiten scheint man sich tatsächlich nur um die eigenen Belange zu kümmern.
`Jeder ist sich selbst der Nächste´, ist alles andere als eine bloße Redewendung.
Blätter liegen auf dem Weg zur Hütte. Die Büsche zu beiden Seiten wirken starr und kalt. Die Fliegengittertür steht offen und schwankt sanft im Wind. Als ich das Fenster des Pick-ups herunterkurbele, kann ich das leise Schnarren der Scharniere hören. Es ist das einsamste Geräusch, das ich jemals in meinem Leben gehört habe.
Keine Bewegung ist zu sehen.
Ich versuche zu erkennen, ob die Haustür hinter dem Fliegengitter geschlossen ist, doch die Luft ist dunstig und der Regen der Nacht steigt als leichter Nebel aus dem Vorgarten auf, sodass die Tür verborgen bleibt. Vielleicht sollte ich mir einige Minuten Zeit nehmen und den Sandweg zur Hütte hinauflaufen? So, wie ich es unzählige Male getan habe, wenn mich Cindy dazu eingeladen hat, ihr doch einiges von dem selbstangebauten Gemüse abzunehmen. Sie hatte nie etwas dafür haben wollen, sondern darauf bestanden, dass ich Sarah einen herzhaften Salat oder frisch gepressten Rübensaft – oder etwas in der Art – zubereitete.
Meistens habe ich Cindy Milch oder eine gute Flasche Wein im Tausch mitgebracht, die ich zuvor in Murphys Laden gekauft hatte. Ich war stets der Ansicht gewesen, es gehörte sich einfach für eine gute Nachbarschaft, dass man die Gutmütigkeit solcher Leute nicht schamlos ausnutzte.
Die Vorstellung, an diesem Morgen den
Weitere Kostenlose Bücher