Graues Land (German Edition)
von einer kaum vorstellbaren Zahl an Toten. Doch erst, als ihre bestürzte Stimme berichtete, dass die Städte Montpellier und Enschede nicht mehr existierten, sickerte das ungeheuerliche Ausmaß dieser Anschläge, gleich zäher Tropfen, in meinen Verstand. Natürlich erinnerte ich mich der Attentate vom elften September oder von Oklahoma City. Doch die Bilder der Zerstörung, die sich nur schwerlich ihren Weg in meinen Kopf bahnen konnten und mit wackeliger Kamera aufgenommen waren, ließen diese Verbrechen wie simple Ladendiebstähle erscheinen.
Der Fokus der Kamera schwenkte über rauchende Krater und eingestürzte Häuser, deren schwelende Stahlträger wie die abgebrochenen Zähne eines Riesen in einen aschegeschwängerten Himmel stießen. Straßen hatten sich in flammende Äcker verwandelt. Überall standen verbrannte Bäume wie schwarze Skelette in einer unwirklichen Gegend, die als Kulisse eines Horrorfilmes hätte dienen können. Hubschrauber flogen in Schwärmen über den schwarzen Himmel, da es keine Straßen und Autobahnen mehr gab. Menschen in rußgeschwärzten Strahlenschutzanzügen stoben hilflos wie winzige Insekten durch das Chaos der Zerstörung. Es schien Nacht zu sein auf den Aufnahmen, doch glaubte man der am unteren Bildrand eingeblendeten Zeit, so wurden die Bilder am frühen Nachmittag aufgenommen. In der linken oberen Bildschirmecke prangte das Logo »Montpellier«, das fortan die Gräuel von »Ground Zero« verdrängen würde.
Es folgten Aufnahmen von Enschede, ebenfalls zur Mittagsstunde aufgenommen, obwohl sich auch dort bereits die Nacht über eine zerrissene und rauchende Landschaft gesenkt zu haben schien. Die Kamera hatte Schwierigkeiten den dichten Schleier aus Asche und Ruß zu durchbrechen. Doch da hatte ich mich bereits abgewendet, das Gesicht in den Händen vergraben, und versuchte, den rasenden Zug der Gedanken in meinem Kopf zu stoppen.
Schon Tage zuvor hatte ich in den Abendnachrichten und dem Autoradio von Internetbotschaften und Warnungen einer arabischen Terrorvereinigung gegen die westliche Welt gehört, doch hatte sich mein Empfinden, was das Grauen des Alltags betraf, wie wohl bei den meisten Menschen unserer Zeit, auf ein Minimum reduziert. Zu schreckliche Dinge waren in den letzten Jahren geschehen. Zu viel Blut hatten meine Augen sehen, zu viele Schreie von Sterbenden und Kindern meine Ohren hören müssen.
Da war Timothy McVeigh, der Oklahoma-Bomber, der 1995 das »Alfred P. Murrah Building« in Oklahoma City in die Luft sprengen wollte und dabei mehrheitlich Kinder in den Tod riss. Oder der Giftgasanschlag auf die Untergrundbahn von Tokio, ebenfalls 1995. Und natürlich »Nine-Eleven«, wie man heute freimütig den größten Terroranschlag in der Geschichte bezeichnete.
All diese Ereignisse und Nachrichten hatten uns abstumpfen, vielleicht sogar innerlich sterben lassen, ohne dass wir uns dessen bewusst geworden waren. War es also wirklich so verwunderlich, dass Drohungen aus der östlichen, radikalen Welt gegen den Westen nicht mehr den Schrecken in uns entfachen konnten, wie wohl noch vor zwanzig Jahren? Man hört den angespannten Stimmen der Sprecher zu, doch ihre Worte finden keinen Weg in die Tiefen unseres verletzlichen Verstandes, sondern prallen am Bollwerk unserer Ignoranz ab.
Doch an jenem letzten Abend, an dem ich mir die Nachrichten im Fernsehen ansah, war irgendetwas anders. Die grauenvollen Bilder aus Frankreich und den Niederlanden entfachten ein bislang namenloses und unbekanntes Feuer von archaischer Angst in mir. Ich saß da, in meinem alten, ramponierten Lieblingssessel, dessen altmodischer Bezug schon seit vielen Jahren zerschlissen war, und machte mir zum ersten Mal Gedanken darüber, was es bedeuten könnte, zu sterben. Ich dachte über das Ende der Welt nach, so wie ich sie kannte. An diesem Abend sah ich auch zum ersten Mal diesen verdammten Satz aus dem verdammten Buch wie das grelle Licht einer Leuchtreklame vor mir:
»... die Welt hat sich weitergedreht ...«
Was auf die Berichte aus Europa folgte, waren die üblichen hektisch einberufenen Versammlungen von Staatsoberhäuptern und Stellungnahmen verschiedenster Menschen, die sich an Wichtigkeit zu übertreffen suchten und deren Blicke mir nur noch mehr Angst einflößten. Denn jeder von ihnen wiederholte in seinem Wortlaut lediglich die von der zitternden Kamera aufgenommen Abscheulichkeiten zweier ehemaliger Städte. Eine ratlose Beschreibung des Offensichtlichen. Zu mehr war ihr
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