Graues Land (German Edition)
lassen.
Dazu die Geräusche, die diese Wesen von sich gaben. Da war nichts Menschliches darin zu finden, was seinen anfänglichen Verdacht, es handele sich um Wegelagerer oder lichtscheues Gesindel, außer Frage stellte.
Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass Murphy den Hang dazu verspürt, Geschichten, die er zum Besten gibt, auszuschmücken als sei er ein Bestsellerautor. Doch diesmal weiß ich, dass ich meinem alten Freund jedes Wort glauben kann.
Murphys Mutter hätte ein cleveres Kerlchen zur Welt gebracht, so bezeichnet mein Kumpel sich stets selbst. Und so hätte er schnell eine Verbindung zwischen den Geschehnissen und den letzten Nachrichten, die er gesehen hatte, aufgestellt. Die Anschläge der Extremisten seien weitaus verheerender ausgefallen als alles bisher Dagewesene. Selbst »Nine-Eleven« sei Kindergarten gegen das Ausmaß, welches über Nacht über die Welt gekommen war. Am zweiten Tag sei er, bewaffnet mit seinem Gewehr und einigen Messern, die er im Gürtel getragen hatte, runter nach Devon gefahren. Vornehmliches Ziel sei seine Schwester gewesen. Aber auch der örtlichen Polizeibehörde beabsichtigte er einen Besuch abzustatten. Schließlich sei er Steuer- zahler und hätte ein Recht zu erfahren, was um ihn herum geschieht.
Über diese Bemerkung muss ich innerlich lachen. Nicht, weil sie von Murphy kommt, sondern einfach nur, weil mir wie ein Blitz der Gedanke gekommen ist, dass auf der ganzen Welt wohl kein Mensch mehr seine Steuern bezahlen würde und jeder Staatshaushalt unweigerlich dem Untergang geweiht ist. Wenn es denn noch Staatshaushalte geben würde. Der Gedanke amüsiert mich dermaßen, dass ich unweigerlich eine Hand vor den Mund halte und mich räuspere. Ich will nicht, dass Murphy denkt, ich würde über seine Erlebnisse lachen.
Den Gedanken, seine Schwester in Devon aufzusuchen oder etwa das Polizeipräsidium, hatte Murphy schnell vergessen, als er in die Stadt hineingefahren war. Die Straßen seien verwaist gewesen, erzählt er mit gesenkter Stimme und erzeugt bei mir eine eiskalte Gänsehaut.
Ich merke meinem Freund an, dass er mit seinen Worten Demi nicht erschrecken will. Dabei hat das Kind mehr erlebt, als wir beiden alten Narren zusammen. Doch von den Ereignissen in Boston weiß Murphy noch nichts.
Die Geschäfte seien geschlossen und die Fenster der Häuser dunkel gewesen. Vereinzelt hätten Haustüren offen gestanden oder die Schaufenster der Läden seien eingeworfen gewesen. Aber Murphy hatte sich nicht getraut nachzusehen, ob sich noch jemand in den Häusern aufgehalten hatte. Er sei einmal die Hauptstraße entlanggefahren, bis zum Marktplatz mit seinem großen Wendeplatz, der an Markttagen auch als Parkplatz benutzt werden durfte, hätte dort seinen Wagen gewendet und sei dieselbe Strecke wieder zurückgefahren.
Aber nirgendwo hätte er auch nur eine Menschenseele angetroffen. Und das, obwohl es zur besten Tageszeit gewesen sei und zumindest die Geschäfte überfüllt gewesen sein müssten. Was Murphy allerdings am meisten Angst eingejagt hatte, waren die Autos, die auf der Straße standen. Es waren nicht viele gewesen, die er sah. Doch sie standen mitten auf Kreuzungen oder dem Mittelstreifen, mit offenen Türen oder eingeschlagenen Fenstern. Und an manchen Türen oder auf der Motorhaube hätte er Blutspuren erkennen können, als sei jemand gewaltsam aus dem Wagen gezerrt worden.
Dann gab es da noch diese Stille, erzählt Murphy mit leiser Stimme weiter, als befürchtete er, jemand könnte ihm zuhören, für dessen Ohren seine Worte nicht bestimmt waren. Eine Stadt ist nie still, flüstert er. Man hört das Summen der Elektroleitungen oder das impertinente Brummen des Straßenverkehrs. Das Lachen von Kindern einige Straßen weiter oder das Bellen von Hunden. Vielleicht auch noch das dumpfe Dröhnen der Bässe in hochgetunten Autos. Doch von all dem war in Devon nichts zu hören. Über den Straßen und Häusern hing eine stille Glocke, die jedes Geräusch, das die Welt normalerweise machte, verschluckte. Und nichts sei schlimmer als eine stille Stadt. Er habe sich gefühlt wie auf einem fremden Planeten, fährt Murphy mit weinerlicher Stimme fort. Längst hat ihm Barry einen zweiten Whiskey eingeschenkt, den mein Kumpel in einem Zug leert.
»Kennt ihr das Gefühl, in einem Alptraum gefangen zu sein und nicht aufzuwachen?«
Murphy spricht uns alle an, doch sein Blick ist starr auf mich gerichtet.
»Genau so habe ich mich in Devon gefühlt. Es war schrecklich.
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