Graues Land (German Edition)
Es war, als ob etwas an dir nagt und frisst und du kannst nur still dastehen und dabei zusehen, wie Stück für Stück aus dir herausgerissen wird.«
Ich hätte Murphy nie derart lyrische Tiefe zugetraut. Doch seine Worte treffen mich wie Dolchstöße. Vor allem, weil sie genau meinen Gemütszustand der letzten Tage wiedergeben.
»All die Orte, die wir zusammen besucht haben, Harv. Das kleine Restaurant am Markt, das Kino oder die Bowlinghalle. Sie alle erschienen mir wie ein gigantisches, stilles Grab. Da waren keine Erinnerungen, keine Bilder mehr in meinem Kopf. Einfach nichts.«
Er sieht mich an, und jetzt kann ich Tränen in Murphys Augen sehen.
»Es scheint, als ob die ganze Welt gestorben ist.«
Ich versuche mich daran zu erinnern, wann ich meinen alten Freund das letzte Mal weinen gesehen habe. Selbst als das mit Audrey passiert war, hat er nicht geweint. Zumindest nicht in meiner und Sarahs Gegenwart. Diesmal weint er. Und wenn es noch einen Beweis um die Tragweite der letzten Tage gebraucht hatte, Murphy liefert ihn uns gerade.
Mein Blick fällt auf den Teller Suppe, den ich für Sarah bereitgestellt hatte.
»Entschuldigt ihr mich bitte?«
Ich stehe aus meinem Sessel auf, wobei jeder Knochen dagegen protestiert. Mit zitternden Händen greife ich nach dem Teller und einer der Kerzen, die auf dem Tisch stehen. Dann steige ich mit schweren Beinen die endlos erscheinende Treppe zum Schlafzimmer hinauf.
Die Suppe ist fast kalt. Doch Sarah hat früher schon gerne ihr Essen abkühlen lassen und es dann erst gegessen. Das war eine ihrer zahlreichen Eigenarten gewesen, die ich so sehr an ihr liebte.
Es ist still im Zimmer. Barrys Geschichte hat jegliches Geräusch aus meinem Verstand verbannt. Während ich Sarah einen Löffel Suppe nach dem anderen gebe, spreche ich nicht mit ihr. Mir fallen keine Worte ein. Was hätte ich ihr auch sagen sollen? Dass es kein Morgen mehr geben wird? Dass die Welt sich in eine leere, graue Wüste verwandelt hat?
Sarah soll nicht wissen, was um sie herum geschieht. Sie soll von einer Welt träumen, in der es Farben gibt, und die sie jeden Tag aufs Neue fasziniert hatte. Sie soll von Humphrey träumen und unseren Abenden am Kamin. Und vielleicht träumt sie ja auch ab und zu von mir, ihrem jugendlichen Liebhaber.
Tränen rollen über meine Wangen und fallen auf die Bettdecke, wo sie dunkle Flecken bilden. Ich stelle den Teller zur Seite und streichele über Sarahs Wange. Ihre Haut wirkt kalt und trocken.
Plötzlich bahnt sich die Furcht der letzten Tage ihren brutalen Weg an die Oberfläche meines Denkens und ich beginne hemmungslos zu weinen. Mein Magen verkrampft sich. Ich bekomme keine Luft mehr. Meine Hände greifen nach Sarahs Nachthemd, als ich sie in den Arm nehme und wie ein Baby an ihrer Brust heule. Der saure Geruch ihres sterbenden Körpers steigt mir in die Nase. Doch darunter kann ich den zarten Duft ihres Lieblingsparfüms riechen, das sie immer aufgelegt hatte, wenn wir nach Devon fuhren.
Mir ist bewusst, dass diese Empfindung nur Einbildung ist. Doch sie hilft mir, meine ganze Verzweiflung in meinen Tränen schreien zu lassen. Ich schluchze, wie ich es zum letzten Mal als kleiner Junge getan habe. Und es gibt nichts, wofür ich mich schämen müsste.
V
Als ich ins Wohnzimmer zurückkomme, steht Barry am Fenster und späht durch die Ritzen zwischen den Brettern nach draußen. Ein bleicher Faden Tageslicht fällt auf sein Gesicht und wirkt wie ein gerader Schnitt von der Stirn bis zum Kinn.
»Wir werden nach Devon fahren müssen«, sagt er, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
Ich verharre mitten in der Bewegung und sehe einen nach dem anderen an. Barrys lapidar dahin gesprochene Worte haben meinen Magen in einen kalten Sumpf verwandelt. Ein saurer Geschmack steigt in meine Kehle.
Murphy steht neben dem Wohnzimmertisch und starrt auf den dunklen Fernsehschirm. Der Sessel davor, in dem ich so viele gemütliche Abende verbracht und die junge Nachrichtensprecherin bewundert habe, kam mir noch nie so leer vor.
»Wir brauchen Vorräte«, fährt Barry fort und sieht mich an. Der Streifen Tag verschwindet von seinem Gesicht. »Du hast selbst gesagt, dass deine Vorräte fast aufgebraucht sind.«
»Was ist mit deinem Laden«, wende ich mich hoffnungsvoll an Murphy, obwohl ich die Antwort bereits zu kennen glaube.
Mein alter Kumpel zuckt verächtlich mit den Schultern. Erst jetzt sehe ich, dass Barry ihm das Whiskeyglas erneut gefüllt hat.
»Mein
Weitere Kostenlose Bücher