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Graues Land (German Edition)

Graues Land (German Edition)

Titel: Graues Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dissieux
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Doch seine Körpersprache ist eine andere.
    »Nach der Pest gab es Menschen, die einander hatten, sich Stärke gaben und die Menschheit neu aufbauen konnten. Nach Kriegen war es ähnlich. Die Menschen rauften sich zusammen, mehr als zuvor, hielten sich gegenseitig fest und bauten ihre Städte wieder auf. Aber was haben wir hier? In Boston waren wir sechs Menschen gewesen. Und hier? Wie viele leben noch in Devon? Wie viele in den Hügeln?«
    Barry schüttelt den Kopf.
    »Es gibt keine Chance. Wenn du in Boston gewesen wärest, dann wüsstest du das auch. Ich wusste nicht einmal, ob du und Mom noch am Leben seid. Wir sind aufs Geratewohl hierher geflogen.«
    Er verstummt und sackt noch weiter in sich zusammen. Mir scheint, als könnte ich ihm dabei zusehen, wie alles Leben aus ihm herausgesaugt wird. Als würde man die Luft aus einem Ballon lassen. Der Anblick schmerzt mich so sehr, dass ich Stiche in meiner Brust spüre. Ich schließe die Augen und lasse mich in die Stille des Hauses fallen. Das Bedürfnis all meine Ängste und einen brüllenden Zorn aus mir herauszuschreien ist übermächtig. Gleichzeitig spüre ich, wie sich mein Magen ob Barrys Geschichte in einen kalten, schweren Stein verwandelt. Doch ich bleibe einfach nur sitzen, mit geschlossenen Augen und ineinander verschränkten Händen, und versuche mich einer Stille hinzugeben, die meinen Verstand seit fast zwei Wochen ausfüllt und die bislang meine Chance gewesen war, in dieser neuen Zeitrechnung zu überleben.
    Einfach nur todesgleiches Schweigen.
    Keine Gedanken über Chancen, Kriege und die Pest.
    Keine Ängste.
    Nur totengleiches Schweigen ...
    Dann dringt etwas mit brachialer Gewalt in die gnädige, trügerische Stille meiner Gedanken ein und lässt mich zusammenfahren. Bilder von Dingen, die ich nicht sehen und verstehen möchte und die ich zu vermeiden suchte, versinken in den Fluten ihres morastigen Sees.
    Als ich die Augen öffne, steht Barry vor der Couch. Demi sitzt neben ihm, ihre kleine Hand in seiner, und sieht sich schlaftrunken um. Ihre Haare sind zerzaust durch Barrys Streicheln und über ihr schmales Gesicht ziehen sich rote Abdrücke, die von Barrys Hose herstammen.
    »Hast du das gehört?«, fragt Barry. Sein Blick wechselt zwischen mir und dem Rest des Zimmers.
    »Da hat jemand gerufen«, flüstert Demi.
    Ich sehe sie an. Ihre Stimme zu hören, versetzt mir einen Stich in der Brust. Doch Barry reißt mich augenblicklich aus meinen Gedanken, als er hinaus in den Flur stürzt.
    »Warte«, rufe ich ihm hinterher.
    Dann verharren wir beide in unserer Bewegung, als die dumpfe Stille des Hauses von einer Stimme unterbrochen wird. Ich gebe Barry und Demi ein Zeichen, schleiche an meinem Sohn vorbei in den Flur hinaus und greife nach meinem Gewehr, das neben dem Eingang zur Küche an der Wand lehnt.
    Das Gewicht der Waffe und die Tatsache, dass Barry nur wenige Meter hinter mir steht, beruhigen mich und bringen meinen Gedanken erneut diese fremde, kalte Stille zurück, nach deren Schoß ich mich so sehr sehne. Dann höre ich die Stimme erneut und frage mich, wie sehr ich meinem Verstand noch vertrauen kann.
    Mich überkommt das dringende Bedürfnis, meine Waffe zu heben und durch die geschlossene Verandatür zu feuern. Gleichzeitig möchte ich die Bretter vor den Fenstern niederreißen und hinaus in den hellen Nachmittag laufen. All diese widersprüchlichen Empfindungen löst diese Stimme vor dem Haus in mir aus. Ich muss wohl eine ganze Zeit lang bewegungslos am Eingang zur Küche gestanden haben, ehe ich plötzlich Barrys Hand auf meiner Schulter spüre und er mich dadurch aus meinem widersinnigen Strudel aus Gedanken und Empfindungen herauszieht.
    »Wer ist das?«, fragt Barry mit einem Flüstern.
    »Das ... das ist ...«
    »Harv. Ich weiß, dass du im Haus bist.«
    »Das ist Murphy«, rufe ich so laut aus, dass mich das Echo meiner eigenen Stimme in dem stillen Haus zusammenzucken lässt.
    »Mein gottverdammter Nachbar Murphy. Dieser verrückte, alte ...«
    Ohne den Satz zu beenden, laufe ich durch die Küche zur Verandatür, schließe sie auf und trete ins helle Licht eines tristen Herbstnachmittages hinaus.
    Murphy steht neben meinem Pick-up, breitbeinig, in seiner blauen Latzhose, die er immer dann getragen hat, wenn er irgendetwas an seinem Haus oder im Laden zu reparieren hatte. Seine Hände sind zu einem Trichter um den Mund geformt. Doch als er mich sieht, fallen sie kraftlos an den Seiten herunter. Jetzt erinnert er mich an

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