Grauzone: Der 13. Fall für August Häberle (German Edition)
den Bäumen langsam dem Horizont näherte und
lange Schatten überm Ried lagen, seinen Schäferhund Gassi führte, wusste
natürlich, dass er seinen Vierbeiner hätte an die Leine nehmen sollen. Doch an
einem Abend wie diesem würde er vermutlich hier draußen niemandem mehr
begegnen, der sich daran störte. Allenfalls ein übereifriger Naturschützer
könnte ihm Ärger bereiten, dachte er, während er Mattus, seinem treuen
Gefährten, freien Auslauf gönnte. Außerdem folgte Mattus aufs Wort, wie sein
Herrchen stets behauptete und damit gebetsmühlenartig betonte, wovon alle
Hundebesitzer felsenfest überzeugt sind.
Jetzt aber war Mattus außer Sichtweite geraten – verschwunden in den wilden Resten des Vorjahresschilfs.
Der Mann beschleunigte seine Schritte, rief ein paar Mal »Mattus, hierher,
Mattus«, und kam angesichts seines üppigen Körperumfangs außer Atem. Als er jene
Stelle erreicht hatte, an der der Hund nach links ins Gebüsch verschwunden war,
versuchte er, in diesem Dschungel aus Schilf, Gestrüpp und frischen Trieben
etwas zu erkennen. Doch sein Blick verlor sich schon nach wenigen Metern in
diesem undurchdringlichen Dickicht. »Mattus, hierher«, rief er erneut – jetzt viel lauter und eindringlicher. Normalerweise ließ
sich der Rüde nicht so ohne Weiteres von einer Wildspur ablenken. Wenn er sich
jetzt aber in diesem Naturschutzgebiet herrenlos herumtrieb, verhieß das nichts
Gutes. Außerdem war auch ein großer Hund nie davor gefeit, in einem Wasserloch
jämmerlich zu ertrinken.
Noch einmal rief er nach Mattus und lauschte – doch mehr als das abendliche Zwitscherkonzert
unzähliger Vögel war nicht zu vernehmen. Der Mann ging ein paar Schritte
weiter, in der Hoffnung, auf eine lichtere Stelle zu stoßen, um die Umgebung
überblicken zu können. Tatsächlich war das Dickicht nach etwa 50 Metern durch
eine tiefschwarze Wasserfläche unterbrochen. Keine Welle kräuselte sich, nichts
bewegte sich.
Der
Mann formte seine Hände vor dem Mund zu einem Trichter und rief so laut er
konnte: »Mattus, hierher.« Sekunden später endlich die Erlösung: Mattus machte
sich durch ein lautes, aufgeregtes Bellen bemerkbar. Es schallte aus dem dichten
Uferbewuchs heraus, war aber ganz nah und ließ keinen Zweifel aufkommen: Der
Schäferhund musste einen aufregenden Fund gemacht haben.
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Von dem
Mercedes und dem Wohnwagen waren nur zwei chaotische Blech- und
Kunststoffknäuel übrig geblieben. Häberle und Grantner hatten sich von Reutte
aus über die E-Werkstraße der Absturzstelle genähert, an der unzählige
Blaulichter zuckten und jede Menge uniformierter Einsatzkräfte herumwuselten.
Das Wohnwagengespann, so hatten es sich die beiden Kriminalisten über Funk
schildern lassen, war während des rund 50 Meter tiefen Sturzes auf die Drähte
einer Hochspannungsleitung gefallen, die unter dem Bauwerk hindurch zu einem
angrenzenden Umspannwerk führte. Ein Leiterseil, wie Fachleute die dicken
Drähte bezeichnen, war durch das Gewicht der draufstürzenden Fahrzeuge gerissen
und hatte einen Kurzschluss ausgelöst. In weiten Teilen Reuttes und einigen
Dörfern des Lechtals gab es deshalb zurzeit keinen Strom.
»Da kam jede Hilfe zu spät«, konstatierte Grantner.
Neben den Wracks stand ein Leichenwagen. »Du darfst mir glaub’n August«, fuhr
der Chefinspektor fort, »wir werden diesen Mercedes – was er ja wohl mal war – bis ins kleinste Detail untersuch’n. Jede Schraube,
jedes Kabel.«
Häberle
nickte betroffen. »Ich empfehl’ dir, den Unfallforscher aus Geislingen
herzuholen.« Er folgte seinem Kollegen und stieg über die polizeiliche
Absperrung, um den völlig deformierten Mercedes genauer sehen zu können. Die
Feuerwehr hatte mit Spreizern und hydraulischen Blechscheren die Insassen bergen
müssen. »Einfach wird es nicht sein, hier etwas zu finden.«
»Großer
Gott«, entfuhr es Grantner, »wenn ein Flugzeug vom Himmel fällt, analysieren s’
doch auch jeden Splitter. Dann wird das ja wohl bei einem Auto genauso möglich
sein.«
Häberle
glaubte einen unterschwelligen Vorwurf herauszuhören, der auf die
vorausgegangenen tödlichen Unfälle auf der A7 gemünzt sein konnte, bei denen
offenbar die Fahrzeugwracks nicht sorgfältig genug untersucht worden waren. Er
wollte jetzt aber nicht darauf eingehen. »Gnade uns Gott«, sagte er
stattdessen, »wenn auch noch den Falkensteins was passiert. Oder dem Astor.«
Grantner
sah an einem der Betonpfeiler zu der Straße hinauf, die seit dem
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