Graveminder
dass er jahrelang körperlich gearbeitet und kein einfaches Leben geführt hatte. Er war schmal, hatte eine ausgeprägte Muskulatur, eine Messernarbe auf dem linken Oberarm und eine wulstige Narbe, wo ihn eine Kugel in den rechten Oberschenkel getroffen hatte. Daisha hatte den Mann offensichtlich brutaler angegriffen als Maylene. Ein Unterarm war bis auf den Knochen durchgebissen, und Kehle und Hals waren auf beiden Seiten bis aufs Schlüsselbein abgenagt. Auch der rechte Bizeps war zerrissen.
Sie hatte so harmlos ausgesehen.
Die Mörderin, die tote Mörderin, war so klein, dass man ihr eine solche Grausamkeit nicht zugetraut hätte. Diesen Leichnam konnte er nicht im offenen Sarg aufbahren.
Sie war ein Monster, kein Mädchen. Sein Vater hatte ihm das ins Gedächtnis gerufen, hatte ihn daran erinnert, dass man den Toten nicht barmherzig begegnete. Als Byron den Beweis für deren Kraft und Gewalttätigkeit hier vor sich sah, verstand er, was William gemeint hatte.
Waren sie auch im Land der Toten so viel stärker? Bei dem Gedanken spürte er, wie ihn eine Woge der Erschöpfung überrollte. Er war nicht bereit dafür. Würde er es je sein? Groll gegenüber seinem Vater, den er nicht spüren wollte, stieg in ihm auf. William war ein guter Mensch und ein guter Vater gewesen, aber seine Entscheidung, diese Geheimnisse, die ein Leben veränderten, für sich zu behalten, drohte alles andere zu überschatten.
Als Elaine den Raum betrat, blickte Byron auf.
»Allan ist da«, sagte sie. »Er kommt gleich. Gehen Sie nach oben. Die Tote … Es ist Bonnie Jean.«
»Amitys Schwester?«
Elaine nickte. »Allan wird sich um alles kümmern.«
Byron kehrte ihr den Rücken zu und streifte seinen Einmal-Overall ab. »Ich sollte …«
»Nein. Sie sollten zu Rebekkah in Maylenes altem Büro gehen«, erklärte Elaine bestimmt. »Amity wird bei ihrer Familie sein. Um die Vorbereitungen für das Begräbnis kümmere ich mich.«
Byron warf Elaine einen Blick zu, während er an die Gefahrenstoff-Tonne trat und die kaum benutzte Schutzkleidung hineinwarf. »Und warum sollte ich das tun?«
»Weil … weil im Büro der Barrows die Akten über die Verstorbenen aufbewahrt werden. Es vereinfacht alles, wenn …« Elaine verstummte.
»Was denn?«, fragte er.
Elaine runzelte die Stirn. Ihre sonst so entschiedene, dominante Art war wie weggewischt. Stattdessen massierte sie sich die Schläfen. »Na ja, die Arbeit. Die Barrows … betätigen sich. Helfen.«
»Klar. So etwas.« Schuldbewusst sah Byron zu, wie Elaine sich den Kopf rieb. »Tut mir leid.«
Sie wedelte wegwerfend mit der Hand. »Sie brauchen ja nicht neben ihr zu sitzen, während sie sich im Büro einrichtet, aber ich glaube, sie braucht Hilfe. William hat Maylene immer unterstützt, und« – Elaine zuckte zusammen – »Rebekkah braucht Sie. Oben. Allan wird das hier übernehmen, und Amity können Sie nicht helfen. Rebekkah braucht … Tut mir leid. Ich glaube, von dem Licht hier unten werden meine Kopfschmerzen immer schlimmer.«
Sie wandte sich ab, und Byron schluckte seine aufsteigenden Schuldgefühle hinunter. Hatte er tatsächlich etwas gesagt, das ihr Schmerzen verursachte? »Elaine!«, rief er ihr hinterher. »Mein Vater fand doch immer, dass ein Besuch in einem Wellnesscenter gut gegen Ihre Kopfschmerzen war, oder?«
Sie hielt inne. »Wegen einfacher Kopfschmerzen muss ich mich doch nicht gleich verhätscheln …«
»Ohne Sie wäre ich verloren. Das wissen Sie ebenso gut wie ich.« Er trat zu ihr. »Sie haben recht. Allan übernimmt die Vorbereitung hier unten, und ich sehe nach, ob Rebekkah etwas braucht. Und Sie entspannen sich, damit Sie nicht krank werden und ich total untergehe.«
Allan betrat den Vorbereitungsraum, während Byron mit Elaine nachoben ging. Als sie an einem leeren Büro vorbeikamen, hörte Byron, wie Rebekkah nach Elaine rief. An der Tür blieben die beiden stehen.
Rebekkah sah von einem Aktenstapel hoch, der auf dem Schreibtisch lag. »Kennen Sie unter den in der Stadt geborenen Einwohnern jemanden mit dem Vornamen Daisha?«
Elaine wies auf den unteren Teil des Aktenschranks. »Dort sind die Geburten aufgelistet, aber William hatte schon eine Notiz über genau diesen Namen angelegt. Ich wollte gerade danach suchen, als Sie heute kamen. Die Arbeit hatte sich ein wenig angestaut, aber … warten Sie.«
Sie ging und kehrte eine Minute später mit einem Papierstoß zurück. »Ich habe nicht alle Akten durchgesehen, aber zwei Daishas
Weitere Kostenlose Bücher