Graveminder
schüttelte den Kopf. » Das ist meiner Meinung nach nicht so eindeutig. Vielleicht ist es kein Tier im eigentlichen Wortsinn, aber jede Kreatur, die Menschen grausam zerreißt … Ich würde sagen, dass Tier dafür ein angemessener Ausdruck ist. Eines der Mitglieder meines Stadtrats wurde getötet. Ihre Großmutter« – er sah die Totenwächterin an – »wurde ermordet. Ich habe genug gesehen und bin mir sicher, dass es eher ein Tier als ein Mensch war.«
Der Undertaker antwortete nicht, aber er verzog leicht den Mund, um sein Einverständnis zu zeigen. Die neue Totenwächterin hingegen runzelte die Stirn. »Es ist nicht ihre Schuld. Wenn man sich richtig um die Toten kümmert …«
»Um das Tier, das so etwas anrichtet, hat sich offensichtlich niemand gekümmert, also finden Sie es, und bringen Sie die Sache in Ordnung.« Nicolas hob die Stimme nicht, aber beim Gedanken an Bonnie Jeans Tod drehte sich ihm der Magen um.
»Mehr haben Sie nicht dazu zu sagen? Finden Sie den Toten, und bringen Sie die Sache in Ordnung. « Der Bestatter zog eine finstere Miene. »Haben Sie eine Ahnung, was wir diese Woche durchgemacht haben? Ist Ihnen klar, dass wir Angehörige verloren haben? Und wir sollen einfach einschreiten und alles in Ordnung bringen ? Wie wäre es mit Unterstützung? Informationen? Mitgefühl?«
»Byron«, murmelte die Totenwächterin. Sie nahm seine Hand und drückte sie fest, und dann sah sie Nicolas an. »Was können Sie uns erzählen?«
Nicolas sah die beiden unverwandt an. »Der erste Todesfall war Mrs. Barrow, der jüngste Bonnie Jean Blue. Warum? Keine Ahnung. Bonnie Jean hat wahrscheinlich einfach Pech gehabt. Es hat noch zahlreiche weitere Angriffe gegeben, aber die sind … vertuscht worden. Keine Toten natürlich. Das lässt sich kaum verbergen. Aber mehr als ein Dutzend Menschen sind gebissen worden.« Der Bürgermeister unterbrach sich, trank einen großen Schluck Whisky und sprach dann weiter. »Die Leute sehen den Zusammenhang nicht. Das können sie gar nicht – wegen des Vertrags. Wenn man kein Mitglied des Stadtrats ist, kann man die Verbindung einfach nicht herstellen. Soweit ich weiß, ist das schon immer so gewesen.«
»Gibt es ein Vertragsexemplar, das wir lesen können?«, fragte die Totenwächterin.
»Nein. Alles wird mündlich überliefert. Falls Außenseiter so etwas zu Gesicht bekämen, könnten sie es vielleicht missverstehen, und … außerdem halten wir es hier einfach so.« Er empfand beim Sprechen leichte Schuldgefühle, so als lasse er es an Loyalität gegenüber seiner Stellung fehlen. Claysville war eine gute Stadt. »Wir haben oft jahrelang keine Probleme. Bis jetzt hat sich immer Mrs. Barrow darum gekümmert, wenn jemand aufgewacht ist. Niemand hat davon erfahren.«
»Warum?«, fragte die Totenwächterin. » Warum sind Sie damit einverstanden? Warum nehmen Menschen ein solches Leben auf sich?«
Und dann ließ Nicolas kurz einige Gedanken zu, die er gewöhnlich nicht an die Oberfläche seines Bewusstseins dringen ließ. »Wir können schließlich nicht weg von hier. Es ist lange her, seit die Stadtgründer diesen Handel abgeschlossen haben. Die Menschen, die daran beteiligt waren, sind alle tot. Aber wir sind hier. Wir werden hier geboren und sterben hier, und in der Zeitspanne dazwischen versuchen wir, das Beste aus dem Los zu machen, das wir gezogen haben.« Er stand auf und füllte sein Glas nach. »So schlimm ist es auch wieder nicht.«
Die beiden gaben keine Antwort, daher fuhr er fort: »Denken Sie doch an unser Leben hier. Niemand wird krank. Sterben müssen wir, aber höchstens durch Unfälle oder wenn wir das entsprechende Alter erreichen … oder den Tod wählen, um Platz für jemand anderen zu machen.«
Bei diesen Worten wechselten Graveminder und Undertaker einen Blick.
»Um ein Kind zu bekommen, müssen die meisten warten, bis jemand stirbt. Bei manchen Familien werden Ausnahmen gemacht.« Demonstrativ sah er die beiden an. »Andere verdienen sich dieses Recht durch Dienst an der Gemeinschaft, oder die Berechtigung einer anderen Person wird auf sie übertragen, falls Letztere sich chirurgisch sterilisieren lässt. Wir können nur eine bestimmte Anzahl von Einwohnern unterhalten. Die Stadtgründer haben etliche Regeln aufgestellt, damit es uns nicht an Platz mangelt. Sie wollten sicherstellen, dass genug Raum zum Anbau von Lebensmitteln und genug Ressourcen für die Einwohner zur Verfügung stehen.«
»Aber das war vor langer Zeit. Heute
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