Graveminder
Charlie trat auf den Treppenabsatz und sah zu ihr herunter.
»Welch hübsche Überraschung, meine Liebe.«
Verächtlich schnaubend richtete sie die Waffe auf ihn. »Warum hast du erlaubt, dass das Mädchen angeschossen wurde?«
»Ich habe doch gar nicht erlaubt, dass auf sie geschossen wurde, Alicia.« Er seufzte. »Warum sollte ich zulassen, dass sie verletzt wird?«
»Warum hast du dann zugelassen, dass diese Kerle auf sie geschossen haben?« Sie hob den Lauf ein wenig höher und drückte ab.
Charlie zuckte nicht mit der Wimper, als Holzsplitter, die aus dem geschnitzten Handlauf der Treppe stammten, neben ihm durch die Luft flogen. »Es sollte zur Abschreckung dienen. Sie sollte nicht verletzt werden, sondern sich nur in meinen Schutz begeben. Ich kann es nicht gebrauchen, dass sie überall herumläuft, Fragen stellt und sich Flausen in den Kopf setzen lässt.«
»Die Wahrheit, meinst du?«
»Nicht alle Wahrheiten sind gleich, Alicia.« Charlie wandte den Blick nicht ab. »Soll ich ihr deine Geheimnisse erzählen?«
Alicia ließ ihr Gewehr sinken. »Nein, aber glaub nicht, dass ich einfach abwarte.«
»Das habe ich gesehen.« Er zog eine finstere Miene. »Konntest du den beiden nicht Zeit lassen, sich zu orientieren, bevor du ihn unter deine Fuchtel nehmen musstest?«
»Warum sollte ich? Du hast ja auch keine Zeit vergeudet, oder? Das arme Mädchen ist kaum eine Minute hier, und du spielst dich als edler Ritter auf. Bewirtest sie fürstlich – nach einem geschickt geplanten Rettungsszenario, das sie in deine Arme treibt. Du bist so durchschaubar.« Alicia schüttelte den Kopf.
»Wenn ich durchschaubar wäre, meine Liebe, hättest du mich schon vor Jahrzehnten überlistet … es sei denn natürlich, du hast Spaß daran, mich auszutricksen.« Charlie kam über die Treppe auf sie zu. »Ist das so, Alicia? Hast du …«
Seine übrigen Worte gingen in ihrem nächsten Schuss unter. Natürlich traf sie nicht, aber sie hatte so genau gezielt, dass die Holzsplitter aus dem Geländer ihn trafen.
Blutleerer Mistkerl, dachte sie. Er ist nicht menschlich. Kaum menschlich.
Er kam weiter die Treppe herunter, als schmerzten ihn die Splitter nicht. Er blutete vielleicht nicht, aber er empfand Schmerz. Das wussten sie beide. Und sie wussten ebenfalls beide, dass er ihr erlauben würde, ihn wiederholt zu verletzen, wenn das den Zorn linderte, der in ihr brodelte.
Sie konnte ebenso wenig in seine gelassene Miene sehen, wie sie ihm verzeihen konnte. Obwohl sie beide wussten, dass sie mit geschlossenen Augen nachzuladen vermochte, sah sie standhaft auf ihr Gewehr hinunter, während sie den Lauf abklappte, die Patronenhülsen entfernte und zwei neue Kugeln hineinschob. Als sie die Waffe schloss und den Blick hob, stand er wartend vor ihr.
»Was immer da drüben vorgeht, es ist nicht normal«, erklärte sie. »Das weißt du ebenso gut wie ich. Wandelnde Tote sind die eine Sache, aber Menschen nur zu töten, damit sie wieder aufwachen, das ist ein ganz anderes Kaliber. Dieses Mal solltest du eingreifen.«
Einen Moment lang starrte Charlie sie an, und Alicia sah den Mann, für den sie ihn gehalten hatte, als sie noch am Leben gewesen war. Damals hatte er beinahe menschlich gewirkt. Einst war er ihr wie ein mächtiger Mann vorgekommen, der über ein ungewöhnliches Reich herrschte.
Ein Mann, dem sie vertrauen konnte.
Er schüttelte den Kopf. »Ich verstoße nicht gegen die Regeln. Das habe ich für dich nicht getan, und ich tue es auch nicht für die beiden.«
»Du bist ein Narr.« Sie riss das Gewehr hoch und schoss auf den gotterbärmlichen Kronleuchter. Während sie sich zum Gehen wandte, regneten Kristallsplitter auf ihn herunter.
42. Kapitel
Kurz darauf, während Byron zu Montgomery und Söhne fuhr, spürte Rebekkah, wie das Gewicht der lebenden Welt abermals Besitz von ihrem Körper ergriff. Doch die Verbindung zu den Toten schien noch immer zu bestehen, und irgendwie fühlte sich dadurch die Luft anders an. Alles roch intensiver.
Nachdem Byron den Leichenwagen angehalten hatte, betrat Rebekkah das Bestattungsinstitut. Irgendwo in Claysville wartete Daisha. Sie war hungrig. Die ganze Zeit, seit sie tot war, hatte sich niemand um ihre Bedürfnisse gekümmert. Sie war allein gewesen. Irgendwie hatte Maylene sie nicht wahrnehmen können.
»Ihr wöchentliches Update.« Elaine streckte ihr einen dicken braunen Umschlag entgegen.
»Mein … Sicher. Mein Update. Ich brauche die Aufzeichnungen über die
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