Graveminder
Rebekkah trat an den beiden vorbei und ging auf die Garage zu.
Sie zog die Tür auf und erstarrte, als ihr vier Augenpaare die Blicke zuwandten. Ein Mann in Maylenes Alter saß auf dem kahlen Zementboden. Neben ihm lag ein Gehstock mit Holzgriff. Ein Mann und eine Frau in den Zwanzigern hockten neben dem Alten. Jeder Einzelne der drei war von einem Salzkreis umgeben. An der gegenüberliegenden Wand wanderte ein Junge, der noch kaum ein Teenager zu nennen war, in seinem Salzkreis umher. Im fünften Kreis lag ein regloser, lebloser Körper: Cissys Tochter Teresa.
»Was hat sie getan?«
Rebekkah betrat den Raum. Als sie die Toten ansah, wurde ihr klar, dass nur Teresa, die noch nicht erwacht war, begraben und mit Nahrung, Trank und Worten versorgt werden konnte. Die anderen musste sie ins Land der Toten begleiten. Wie Troy. Wie Daisha. Was sie hier sah, übertraf alle ihre Befürchtungen. Es war eine Abscheulichkeit.
Der Junge schien schon am längsten wach zu sein, denn ganz offensichtlich versuchte er aus seinem Gefängnis auszubrechen. Das Pärchen stand auf, als Rebekkah vorbeiging. Die Arme über den Kopf gereckt, schienen sie dort oben Halt zu suchen, stemmten sich gegen die unsichtbare Barriere, die sie umgab. Der alte Mann starrte Rebekkah einfach nur an. Er rührte sich nicht, doch sein Blick folgte ihr.
»Bek?«
Sie wandte sich um. »Das hat sie getan. Und das Gleiche hat sie mit Daisha und mit Troy angestellt.«
Tränen liefen Rebekkah über die Wangen. Sie spürte sie und war sich bewusst, dass sie weinte. In Anwesenheit der Toten, die sie nicht hatte schützen können, war sie verloren. Sie gehörten zu ihr, und sie hatte nichts von ihrem Tod geahnt.
Weil Cissy sie umgebracht hatte.
»Wir lassen nicht zu, dass sie das noch einmal tut.« Byron stand plötzlich neben Rebekkah und musterte die Toten. Er zuckte weder vor ihrem Leiden zurück, noch übersah er es.
»Ich muss sie von hier fortbringen.« Rebekkah konnte sie nicht berühren und ihnen auch keinen Trost spenden. Nicht hier. Aber sie konnte sie ins Land der Toten begleiten. Sie konnte die Salzkreise öffnen, einen nach dem anderen, und sie an den Ort führen, an dem sie wieder sie selbst sein würden. »Ich werde sie befreien. Ich kann sie begleiten … nur nicht Teresa. Sie muss begraben werden. Du kannst sie wegbringen und …«
»Und wenn Cissy zurückkehrt, weiß sie, dass sie entdeckt wurde. Denk doch nach, Bek!«
»Ich kann sie aber nicht so zurücklassen.« Rebekkah trat auf den letzten Kreis zu, in dem ihre Cousine Teresa lag. »Teresa ist noch nicht lange tot. Ich werde ihr Grab hüten, und sie braucht nicht zu leiden und wird es nie erfahren. Die anderen … muss ich nach Hause bringen.«
»Noch nicht.« Byron stand hinter ihr. Er berührte sie nicht, aber er war ihr nahe genug, um ihr Einhalt zu gebieten, falls sie die Salzkreise zu übertreten versuchte.
Statt Byron anzusehen, wandte Rebekkah ihre Aufmerksamkeit dem alten Mann zu. »Er ist noch nicht lange erwacht. Vielleicht kann er noch bekommen, was er braucht. Dann müsste er nicht durch den Tunnel gehen. Ich kann ihn ins Haus bringen und ihm zu essen und zu trinken geben.«
Byron legte ihr eine Hand auf die Schulter und drehte sie um, damit sie ihn ansehen musste. »Und wenn wir das tun, entkommt Cissy. Wenn du Teresas Leichnam mitnimmst, wenn du Mister Sheckly mitnimmst, weiß Cissy Bescheid. Willst du diese Toten etwa auf Kosten jener Menschen retten, die sie demnächst umbringen wird?«
»Nein.« Rebekkah wollte keinen Streit, aber in ihrem Innern rang Instinkt mit Logik. Die Toten waren gefangen, und sie musste sie an den Ort führen, an den sie von Rechts wegen gehörten.
»Wir können sie noch nicht befreien.« Byrons Stimme klang fest.
Sie nickte, nahm seine Hand und sah sich um. Meine Toten, dachte sie. Es ist meine Aufgabe, sie zu beschützen. Die Salzkreise blockierten die Rauchfäden, die sie zu ihnen riefen, und umgekehrt, aber sie hatte sie trotzdem gefunden. »Heute Nacht geht ihr nach Hause«, flüsterte sie. »Für euch ist es fast vorüber.«
Byron drückte ihre Hand, und dann betraten sie zusammen das Haus.
Das Wissen, dass die Toten hier waren – und litten – und sie ihnen nicht helfen konnte, verursachte Rebekkah körperliche Übelkeit. Die Verbindung, die sie zu ihnen hätte spüren müssen, war durch das Salz unterbrochen. Doch allein der Umstand, sie zu sehen und nicht zu spüren, schmerzte sie auf unvorstellbare Weise. Sie musste
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