Gray Kiss (German Edition)
zu. Die Jalapeño ereilte ein kurzer und schmerzloser Tod.
Dann lief ein Lied, das meine beiden Freundinnen in helle Begeisterung versetzte, und sie stürmten auf die Tanzfläche. Bunte Lichter erhellten ihre Gesichter, sowie sie sich mit den anderen zum hämmernden Rhythmus der Technosongs bewegten. Erst stampfend, dann frenetisch mit den Armen und Beinen zuckend. Mir wurde es immer unbehaglich, wenn Tanzen angesagt war. Ich mochte die Vorstellung nicht, dass mich jemand beobachtete und meinen Tanzstil beurteilte oder mich auslachte.
„Tanz einfach, als ob niemand zusieht“, hatte Carly immer gesagt.
„Wo hast du diesen Spruch her? War der irgendwo auf ein Kissen gestickt?“
Sie hatte mich angegrinst. „Wahrscheinlich. Trotzdem, es stimmt. Man muss jeden Moment genießen, denn es könnte der letzte sein.“
Bei der Erinnerung an den unerschütterlichen Optimismus von Carly Kessler spürte ich einen dicken Kloß im Hals. Ich kriegte nicht mal mehr mein Gingerale runter, also konzentrierte ich mich wieder darauf, den Club abzusuchen, den Eingangsbereich, die Tanzfläche.
Wir waren jetzt seit einer Stunde hier. Eine Stunde, um einen Teller Nachos zu essen, mit ein paar Mädchen zu quatschen, die großzügigerweise meine Anwesenheit tolerierten. Eine Stunde, um mehrere Hundert meiner Altersgenossen dabei zu betrachten, wie sie an einem Samstagabend Spaß hatten, und um mir ins Gedächtnis zu rufen, dass ich bis vor Kurzem eine von ihnen gewesen war. Eine Stunde, um festzustellen, dass mir all das rein gar nichts brachte.
In der Luft hing ein intensiver Geruch, der mir das Denken zunehmend schwerer machte. Es war weder Schweiß noch Parfum, sondern etwas anderes. Etwas, das sich um mich legte wie eine Würgeschlange, die mich schmerzhaft umklammerte.
Auf alle, die mich nicht kennen, wirke ich wie eine ganz normale Siebzehnjährige. Doch ich habe keine Seele mehr, deshalb bin ich eine Gray - ein Wesen, das die Fähigkeit besitzt, einem anderen durch einen Kuss die Seele zu stehlen.
Es war ein Fehler, hierherzukommen. Hier wird es nur schlimmer .
„Entspann dich“, befahl ich mir selbst.
Doch es war nicht so einfach, sich zu entspannen, wenn man nicht tief durchatmen konnte. Flaches Atmen war die beste Möglichkeit für mich, an einem Ort wie diesem nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren. Ich war hier, weil ich eine verschwundene Person aufspüren wollte, und nicht, um ein potenzielles Opfer zu finden. Das musste ich mir vor Augen halten.
Da ich mich dringend von meinem unnormalen, immer stärker werdenden Hunger ablenken musste, erhob ich mich und schob mich am Messinggeländer entlang, das die Tanzfläche von den Sitzbereichen abgrenzte. Ich umfasste das kühle, glatte Metall so fest, dass meine Fingerknöchel weiß wurden. Nach ein paar Sekunden war mein Hungergefühl verschwunden.
Aber nur, um kurz darauf doppelt so heftig wiederzukehren.
„Was machst du hier, Samantha?“ Seine tiefe Stimme klang nicht gerade erfreut. Er stand direkt hinter mir.
Ich verstärkte meinen Griff um das Geländer, schloss die Augen und probierte, einfach die Luft anzuhalten - allerdings war das unmöglich. Selbst seelenlose, gefräßige Monster wie ich brauchten Sauerstoff.
Als ich schließlich tief einatmete, umfing mich sein vertrauter Duft - warm, würzig und absolut niederschmetternd.
Endlich schaffte ich es, mich zu ihm umzudrehen.
Bishop starrte mich mit seinen kobaltblauen Augen unter den dunklen Brauen fragend an. Ich war ja nur knapp ein Meter sechzig groß, und er überragte mich um Längen. Seine breiten Schultern. Die muskulösen Arme, die sich unter dem eng anliegenden, schwarzen Langarmshirt abzeichneten. Das verwuschelte mahagonibraune Haar. Ich verspürte den dringenden Wunsch, ihm die wilden Haarsträhnen aus der Stirn zu streichen. Damit ich ihn nicht berührte, ballte ich schnell die Hände zu Fäusten.
„Was ich hier mache?“, wiederholte ich möglichst beiläufig. „Was ist daran so besonders? Im Crave trifft man sich doch gern mit seinen Freunden.“
„Du hältst Ausschau nach Stephen.“
Ich zuckte die Achseln, schaute weg und beobachtete weiter die Tanzfläche.
„Samantha.“
Wenn er meinen Namen sagte, überlief mich immer ein Schauer. Diesmal lag in seinem Blick allerdings Ärger. „Ich weiß, dass du es gern hättest, wenn ich mich jeden Abend zu Hause einschließen würde, aber das geht nicht. Außerdem habe ich jetzt ein paar Tage nichts von dir gehört. Ich dachte, ich
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