Gray Kiss (German Edition)
beleidigen?“
„Ich kann dich auch ohne Waffe eliminieren“, behauptete ich gespielt selbstsicher.
„Versuch es. Aber das wäre vollkommen unnötig. Ich habe nicht vor, jemandem von deinem kleinen Geheimnis zu erzählen, falls das deine Sorge ist.“
Ich sah ihn an. „Vielleicht traue ich dir nicht.“
„Kluges Mädchen. Und du bist auch klug genug, meinem Bruder nicht zu trauen. Denn wenn du nicht aufpasst, könnte er dir ein Messer in den Rücken rammen wie damals mir.“
Er ließ mich los und spazierte davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich schaute ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war, dann griff ich nach meinem Schlüssel und ging hinein.
Der Dämon kannte mein Geheimnis.
Und das Schlimmste daran war: In diesem Augenblick war das mein geringstes Problem.
18. KAPITEL
Cassandra klopfte leise an meine Zimmertür, als sie um ein Uhr nachts nach Hause kam. „Samantha, bist du noch wach?“
Ich zog mir die Decke bis zum Kinn hoch und versuchte, mich nicht zu bewegen.
Hau ab, dachte ich. Ich will nicht mit dir reden. Ich will mit niemandem reden .
Nach einer Minute verschwand sie. Ich lauschte, wie sie den Flur entlang zum Gästezimmer ging.
Normalerweise entsprach es nicht meiner Art, mich vor der Welt und meinen Problemen zu verstecken. Doch heute war mir einfach danach.
Außerdem konnte ich nicht richtig schlafen, wie immer in letzter Zeit. Ich hatte einen Albtraum nach dem anderen und warf mich hin und her, bis ich schließlich kurz vor sechs erwachte. Ich hatte die Decke so um mich verdreht, dass ich eine Weile brauchte, bis ich mich befreit hatte.
Ich probierte gar nicht erst, noch einmal einzuschlafen. Stattdessen kletterte ich aus dem Bett, duschte und zog mich an.
Ich verdrückte ein riesiges Frühstück in der Hoffnung, dass es wenigstens heute Morgen Wirkung zeigen würde. Aber schon unmittelbar nach dem Frühstück hatte ich unfassbarerweise noch mehr Hunger als vorher.
Stärkerer Hunger. Stärkeres Frieren .
Die Stase war nicht mehr weit.
Ich wollte Stephen so gerne hassen, weil das vielleicht alles einfacher gemacht hätte. Aber die Angst in seinem Blick war mir unter die Haut gegangen. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen. Doch er lief lieber vor mir davon.
Wir alle trafen unsere eigenen Entscheidungen. Auch die Entscheidung, keine Entscheidung zu treffen, hatte Auswirkungen auf den restlichen Verlauf unseres Lebens.
Ich verließ das Haus, noch bevor Cassandra aufgestanden war, denn ich wollte um jeden Preis eine Diskussion vermeiden, die sich um den letzten Abend und um Bishop drehte. Der Gedanke an ihn würde mir jetzt nicht helfen.
Es war noch sehr früh, als ich in der Schule ankam, meinem Zufluchtsort. Hier hatte ich noch am meisten Kontrolle über mein Leben. Vielleicht war ich nicht die beliebteste Schülerin, allerdings wusste ich immerhin, was mich hier erwartete. Ich hatte gute Noten und meine Lehrer mochten mich. Hier gehörte ich hin. Der Anblick der Spinde, des glänzenden Linoleumfußbodens und das leise Summen der Neonröhren hatten eine beruhigende Wirkung auf mich.
Eine volle Minute starrte ich Carlys Schrank an, bevor ich meinen eigenen gleich daneben öffnete.
„Warum machst du dir immer so viele Gedanken?“, pflegte sie zu sagen, wenn ich mal wieder wegen irgendetwas niedergeschlagen war. Ganz egal, worum es ging, vor irgendetwas hatte ich immer Angst. „Sich zu sorgen, ändert doch nichts. Es ist nur totale Energieverschwendung.“
„Und verursacht Falten“, hatte ich hinzugefügt.
„Genau!“
Don’t worry, be happy. Leichter gesagt, als getan.
Ich setzte mich auf den Boden. Heute trug ich eine durchsichtige schwarze Strumpfhose und einen knielangen Rock. So hatte ich im Fall der Fälle leichter Zugriff auf den Dolch. Ich berührte die beruhigenden Umrisse der Waffe. Dummerweise tauchte dabei ein Bild von Bishop vor mir auf. Und davon, wie seine warmen Hände meine Haut berührten.
Ich kniff die Augen zu, versuchte normal zu atmen und mich auf das zu konzentrieren, was als Nächstes anstand. Bishop lenkte mich immer ab, selbst an guten Tagen, und Ablenkung konnte ich im Moment überhaupt nicht brauchen. Ich hatte ihm erklärt, ich wollte die Antworten alleine finden, und das meinte ich auch so.
Gestern Abend war ich davon allerdings wesentlich mehr überzeugt gewesen als jetzt. Heute wirkte alles irgendwie hoffnungslos.
Aber der Dienstag war noch nie mein Lieblingstag gewesen.
Irgendjemand neben mir gab ein Geräusch
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